"Wir haben heute eine Diskussion, in der die sozialen, politischen und wirtschaftlichen Gründe der Entstehung der RAF ausgeblendet sind", kritisiert Klaus Jünschke. "Man tut so, als sei die Wahrheit über die RAF eine Frage, wer hat was wann wo wie gemacht." Wer aber aus der Geschichte der RAF lernen will, müsse sich die damalige Zeit vergegenwärtigen. Besonders "ärmlich" findet Jünschke die Äußerungen von Jan Philipp Reemtsma vom "Hamburger Institut für Sozialforschung". Der Literatur- und Sozialwissenschaftler hatte im Februar 2007 gesagt, die Anschläge und Morde der RAF seien von "Größenwahn, Machtgier und Lust an der Gewalttat" geprägt. Der ehemalige Bundesinnenminister Gerhart Baum (FDP) hatte darauf entgegnet: "Ein solcher Ansatz entpolitisiert und enthistorisiert die RAF." Terrorismus könne nicht auf "psychologische Dispositionen" reduziert werden. So sieht das auch Klaus Jünschke.
"Gefühl einer weltrevolutionären Situation"
"Es waren nicht innere Ursachen in den Köpfen einiger Akteure", sagt Jünschke, "sondern äußere Umstände, die dazu geführt haben, dass ein Teil der Protestgeneration zu den Waffen gegriffen hat." Dazu gehörten, so Jünschke, der Vietnamkrieg und andere Befreiungskämpfe in Lateinamerika, Asien, Afrika. "Wir dachten, wir sind in einer weltrevolutionären Situation." Die Entwicklung innerhalb der Bundesrepublik hatte dieses Gefühl in der linken Szene noch verstärkt. Das von vielen als autoritär empfundene Klima wurde durch die Erschießung von Benno Ohnesorg, das Attentat auf Rudi Dutschke und die Notstandsgesetze weiter angeheizt. "Wir hatten Angst vor der Wiederkehr des Faschismus", sagt Jünschke. Mit Kurt Georg Kiesinger (CDU) als Bundeskanzler der Großen Koalition habe ein Alt-Nazi regiert. "Bei Demonstrationen wurde uns zugerufen: Ihr gehört vergast."
Tragische Wechselwirkungen
"Für die erste RAF-Generation gilt: Ohne den Vietnamkrieg hätte es keine bewaffnete Organisation gegeben", sagt Jünschke. Dieser Krieg habe die Frage aufgeworfen: "Wie kann man vom Protest zum Widerstand kommen und den Vietnamesen tatsächlich helfen?" Die Antwort der RAF: "Durch Angriffe auf amerikanische Einrichtungen". Das sei anfangs "von Tausenden oder Zehntausenden" in der Bundesrepublik befürwortet worden.
Auch die zweite RAF-Generation hat sich aus Sicht von Jünschke aus einer tragischen Wechselwirkung entwickelt. Für ihn sind die Haftbedingungen der festgenommenen RAF-Gründer die Hauptursache für die Entstehung einer weiteren Generation von Terroristen. Die Isolationshaft, unter der viele RAF-Häftlinge gelitten hätten, sei der Anlass gewesen, die Gefangenen befreien zu wollen. "Nach dem Hungertod von Holger Meins haben sich einige gesagt: Das nehmen wir nicht hin, dass die da drin kaputt gehen."
"Isolationshaft ist kein Mythos"
Jünschke wehrt sich gegen den häufig erhobenen Vorwurf, die Isolationshaft sei ein Mythos, mit dem die RAF Propaganda betrieben habe: "In Stammheim hat es zwar für Andreas Baader, Ulrike Meinhof, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe keine Isolationshaft gegeben, aber in den Gefängnissen darum herum waren fast alle anderen in Isolationshaft."
Jünschke selbst saß sieben Jahre lang im rheinland-pfälzischen Zweibrücken in strenger Einzelhaft, wie es im Justiz-Jargon heißt. "Kein Geräusch zu hören, mit niemandem ein Wort wechseln zu können, ist auf Dauer unerträglich", sagt er. "Mit der Zeit verwirren sich die Sinne: Man riecht plötzlich in der Zelle etwas, das gar nicht da ist. Man schmeckt im Essen Zutaten, die gar nicht drin sind." Er berichtet von dem Gefühl, wahnsinnig zu werden - zusammen mit Ängsten und körperlichen Schmerzen. Noch heute, fast 20 Jahre nach seiner Haftentlassung, fällt ihm manchmal das Sprechen schwer: "Ich verdrehe Wortsilben, Begriffe fallen mir nicht ein." Auf der Straße spüre er oft seine Beine nicht mehr. "Manchmal bekomme ich Herzrasen und Schwindelgefühle."
"Ich will nichts entschuldigen"
"Den Deutschen Herbst hätte es ohne Isolationshaft nicht gegeben", glaubt Jünschke. Damit will er jedoch weder die Schleyer-Entführung noch die Kaperung der "Landshut" rechtfertigen. "Es geht mir nicht darum, diejenigen, die da gehandelt haben, zu entschuldigen." Er wolle vielmehr die Zusammenhänge verstehbar machen. Die RAF-Morde hätten nichts verbessert - im Gegenteil. "Aber wenn über das moralische Desaster der RAF gesprochen wird, muss auch von der Moral der Gesellschaft die Rede sein. Eine Gesellschaft, die nur den falschen Kampf der RAF kritisiert, aber ihren Anteil daran nicht sieht, begeht ihren nächsten Fehler", sagt Jünschke.
Er fühlt sich durch die linken Globalisierungskritiker von heute bestätigt: "Nach wie vor herrschen weltweit Ungerechtigkeit und Ausbeutung. Seit den 60er Jahren sterben nach UN-Angaben Jahr für Jahr 50 Millionen Menschen an Hunger und leicht heilbaren Krankheiten." Aber bis heute fühle sich "unsere Gesellschaft" dafür nicht mitverantwortlich. Das birgt für Jünschke weiteren Konfliktstoff: "Wenn wir unsere Form des Wirtschaftens nicht beenden, kommen Kontinente wie Afrika in Bewegung - und zwar Richtung Europa." Auch der islamistische Terror werde durch globale Ungerechtigkeit angeheizt.
"Die Gesellschaft verändern"
"Ich engagiere mich nach wie vor für den Abbau sozialer Ungleichheiten", sagt Jünschke, der in seiner Haftzeit Sozialwissenschaften studiert hat. "Die Hauptursache von Gewalt liegt in asymmetrischen Sozialbeziehungen - zwischen Eltern und Kindern, zwischen den Geschlechtern, in den internationalen Beziehungen. Herrschaft ist Gewalt." Jünschke leitet seit 1993 eine Gesprächsgruppe in der Jugendabteilung im Gefängnis Köln-Ossendorf. Zusammen mit den straffälligen Jugendlichen hat er in einer Erzählwerkstatt Texte über ihre Situation erarbeitet, die im April 2007 unter dem Titel "Pop Shop" als Buch erschienen sind. Daneben hat Jünschke als Vorstandsmitglied des "Kölner Appells gegen Rassismus" im Stadtteil Ehrenfeld weitere soziale Projekte mitentwickelt. Dazu gehört eine Hausaufgabenhilfe für Flüchtlings- und Migrantenkinder.
Damit knüpft Jünschke an die Zeit vor der RAF-Gründung an. Damals waren auch Ulrike Meinhof, Gudrun Ensslin und Andreas Baader in sozialen Projekten engagiert. Mit dieser Arbeit hätten sie "einen Schlüssel schon in der Hand" gehabt, schreibt Jünschke 1986 in seinem offenen Brief an die RAF: "Diese Gesellschaft lässt sich durch die Integration der Randgruppen verändern und nicht über das Abknallen von Spitzen aus Wirtschaft, Politik und Militär."
>> Im ersten Teil: Klaus Jünschke über die Moral und die Mittel der RAF.
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