Anstatt Weihnachten mit der Familie zu verbringen, reiste Richard Sebek am 24. Dezember 1908 durch die Hitze Südamerikas. Einen Tag zuvor hatten er und der deutsche Astronom Friedrich Wilhelm Ristenpart – zu diesem Zeitpunkt Professor an der Universität von Sanitago de Chile und Direktor der Nationalsternwarte – eine Sonnenfinsternis im Norden Argentiniens beobachtet. Von einer Rinderfarm aus traten sie früh morgens den Rückweg an. "Im Galopp ging es durch die weite Pampa", schreibt Sebek in seinem Reisebericht. In Monte Caseros nahmen sie den Zug, der dreimal in der Woche nach Concordia fuhr. Weihnachtlich klingt diese Reise nicht.
Ebenso wenig sollte an Bord des Raddampfers "Viena", der über den Río Uruguay nach Buenos Aires schipperte, Festtagsstimmung aufkommen - trotz eines üppigen, mehrgängigen Menüs. „Man hatte keine Kapelle an Bord und zufällig war auch kein Geistlicher da, so konnte man nicht zur Messe gehen“, schreibt Richard Sebek weiter. Selbst in Buenos Aires herrschte kein Feiertagstrubel. Davon abgesehen, dass man Tannenbäume vergeblich suchte. Lediglich am Abend wurde auf einigen Plätzen bei festlicher Beleuchtung getanzt. In Gedanken war der damals 22-Jährige deshalb stets bei seiner Familie: "Die Erinnerung an die zusammen verlebten schönen Tage ist ein Schatz, den uns keiner nehmen kann."
Fotos aus einer anderen Zeit
Die Geschichte dieser ungewöhnlichen Weihnachtstage schrieb Sebek allerdings erst fünfzig Jahre später mithilfe seiner damals angefertigten Notizen nieder. Als Weihnachtsgeschenk erhielten seine drei Enkel diesen Bericht 1958 zusammen mit einem kleinen Fotoalbum. Seine Enkelin Heike Wolf hat dieses Geschenk stets aufbewahrt, ebenso weitere Alben mit Aufnahmen aus dieser Zeit. Den Bildern sieht man ihr Alter nach all den Jahren natürlich an. Nicht nur, dass sie mit der Zeit verblichen sind, auch die Motive sprechen Bände: Pferde und Kutschen statt Autos, Buenos Aires glich noch nicht annähernd der Metropole von heute und die damals entwickelten Geräte geben heute zum Teil Rätsel auf.
Als Mechaniker nach Santiago de Chile
Was war das für ein Mann, der 1908 eine solche Reise unternommen hat? Ein handschriftlicher Bericht, den Richard Sebek ebenfalls erst fünfzig Jahre später verfasste, gibt da zusätzlich Aufschluss: Als Mechaniker sandte ihn die chilenische Botschaft in Berlin an die Universität von Santiago de Chile. Der gebürtige Leipziger sollte dort eine 4-jährige Stelle am Laboratorium für experimentelle Psychologie antreten. "Das Institut wollte für die Universität einen Hörsaal mit technischen Geräten errichten", ergänzt seine Enkelin Heike Wolf aus Erzählungen. "Dabei wollte man unter anderem von außen am Kopf die Intelligenz der Menschen messen." Ihr Großvater sollte dabei die Einführung der Geräte übernehmen.
Verspätete Arbeit am psychologischen Institut
Knapp sechs Wochen fuhr Sebek damals mit dem englischen Dampfer „Orita“ bis zur chilenischen Hafenstadt Valparaíso, um von dort nach Santiago de Chile zu gelangen - eine Strecke, die man heute vom Düsseldorfer Flughafen in circa 17 Stunden fliegen kann. Seine Stelle konnte der zu diesem Zeitpunkt noch 21-Jährige allerdings nicht antreten. Die Geräte, die ebenfalls von Berlin ans psychologische Institut gesendet wurden, kamen nie an. Eines der Schiffe ging in der Magellanstraße unter. Dadurch erhielt Sebek zunächst auch kein Gehalt und musste sich mit Aushilfsjobs über Wasser halten. Dabei knüpfte er Kontakte und lernte den Astronom Ristenpart kennen. Später arbeitete er auch für Professor Max Westenhöfer - einen deutschen Pathologen. Den habe er beim ersten Treffen sofort an seiner aristokratischen Erscheinung erkannt, schreibt Sebek. Fotos von ihm zeigen Westenhöfer mit seinen Studenten, aber auch die Räume und Geräte des Instituts.
Ein Mann und seine Tüftelei
Heimweh hatte Sebek nach eigenen Angaben in den vier Jahren nicht. Stattdessen ließ er seinen kreativen Kopf arbeiten und tüftelte nebenbei. Mit Bambusstangen, Leinen, einem Fahrrad und einem von ihm entwickelten Antrieb versuchte er beispielsweise, ein Fluggerät zu bauen. Der junge Pionier scheiterte jedoch. „Dann erfuhr er auch noch, dass die Gebrüder Wright in Amerika bereits erste Erfolge vermeldeten“, erzählt seine Enkelin Heike Wolf. Also widmete er sich weiterhin seiner normalen Arbeit.
Der Liebe wegen zurück nach Deutschland
Nachdem der Vertrag ausgelaufen war, kehrte Richard Sebek nach Deutschland zurück. Seine zukünftige Frau wartete bereits auf ihn. Erica Thiele – aufgewachsen in Schweizer Pensionaten – reiste Sebek in seiner Abwesenheit irgendwann nach. Sie hatte sich in den Kopf gesetzt, dass er der Richtige sei. Ohne Wissen ihrer Eltern packte sie ihre Koffer und nahm das nächste Schiff. Aber trotz der jungen Liebe und der damals aufwendigen, sechswöchigen Reise schickte Sebek seine Erica wieder nach Hause. "Wenn dann komm ich nach Deutschland und halte offiziell um deine Hand an", habe er gesagt. Ein Mann der alten Schule eben.
Unbequeme Stühle als Marketing-Strategie
Später kehrte das Paar nach Santiago de Chile zurück, heiratete 1915 und bekam drei Kinder. In dieser Zeit baute sich der Mechaniker ein eigenes Unternehmen auf. Dazu gibt es allerdings keine Niederschriften mehr, lediglich vereinzelte Fotos. Doch seinen Enkeln erzählte er bis zu seinem Tod im Alter von 89 Jahren regelmäßig von seiner Arbeit und der Zeit in Südamerika. „Die Chilenen kannten wohl noch keinen Joghurt, weshalb er mit einer Joghurtproduktion anfing und eine Milchbar eröffnete", verrät Heike Wolf. Damit die Gäste nicht ewig sitzen blieben und in der Zeit lediglich ein Getränk zu sich nahmen, lies er unbequeme Stühle anfertigen. Das war anscheinend ein Erfolgsrezept: Sebek eröffnete weitere Cafés und Bars, bevor die Familie 1923 zurück in die Heimat ging. Seine Enkelin hält den Bericht, die Fotos und die Erzählungen ihres Großvaters stets in Ehren: "Es ist einfach Familiengeschichte und mein Großvater war ein wirklich interessanter Mensch."