Kurz zuvor war das World Trade Center eingestürzt. Und mit ihm eine Welt für Melinda. So jedenfalls schien es mir damals. Jetzt steht sie also da und lächelt. "Hi, stranger!", begrüßt sie mich, als ich auf sie zugehe. Auch sie kann sich noch schwach an mich erinnern. Es sei das erste Mal gewesen, dass sie im Dienst geweint habe, sagt sie. Da merke man sich die Leute, die einen in so jämmerlichen Zustand sehen. Sie lache jetzt wieder öfter, sagt Melinda. "Life goes on, you know."
Durch die Rauchschwaden blinzelt die Sonne
Eine Woche nach dem schwersten Terrorakt der Geschichte hat New York die Trauermaske um ein paar Millimeter gelüftet. Durch die Rauchschwaden über dem Trümmerhaufen am "Ground Zero" blinzelt hin und wieder die Sonne. Der Harmonika-Spieler vor meinem Hotel ist zu seinem früheren Repertoire zurückgekehrt. Eigentlich schade: Statt Trauermusik spielt er jetzt Polka. Die Serviererin im Internet-Café, von wo aus ich mehrmals täglich meine Berichte und Fotos für WDR.de absetze, begrüßt mich zum ersten Mal nicht mehr mit "Good Morning, Sir", sondern mit einem saloppen "Hi, Man!". Eine Woche Zeit hat New York gut getan. Die Stadt und viele ihrer Menschen bewegen sich, ganz sachte und in winzig kleinen Schritten, in Richtung Normalität. Aber was ist schon normal in New York.
Die Aufräumarbeiten am "Ground Zero" gehen zügig voran. Der Trümmerhaufen ist jetzt nur noch so hoch wie ein fünfstöckiges Gebäude. Nach dem Zusammensturz der Türme war die 450.000 Tonnen schwere Schutthalde noch zehn Stockwerke hoch. Die Wall-Street-Börse ist seit gestern wieder geöffnet. Der "A"-Train fährt fast wieder bis zur Endstation. Und Taxis dürfen inzwischen schon ganz nahe ran an die von Rettungstrupps besetzte Zone.
"Rudolph the Rock" war hier
Auf dem Weg durch Chinatown sehe ich Fähnchen schwenkende Schulkinder. Rudolph Giuliani war hier, der Oberbürgermeister von New York. Die Boulevardzeitungen nennen ihn "Rudy, the Rock." Der Fels in der Brandung. Auch Rudy lächelt schon wieder. Am Wochenende wurde er auf einer Hochzeit gesehen.
Doch die Sonnenstrahlen über "Ground Zero" werfen noch immer meilenlange Schatten: Die Zahl der Vermissten hat kaum abgenommen. Sie bewegt sich noch immer bei 5.400. An der Tränen-Mauer, wo Angehörige Such-Fotos aushängen können, scheinen die Menschenschlangen eher länger als kürzer zu werden. Doch nicht jeder sucht nach Ehefrau, Mutter oder Freund. Die Trauerwand ist zum Touristen-Mekka geworden. Es wird unangenehm viel in die Kameras gelächelt: "Say Cheese!", heißt es tausendfach vor den Postern, den Liebesbriefen an die Verschollenen und den Plastikzierblumen der trauernden Hinterbliebenen.
"Aufhören zu verdrängen"
Vor dem "Bellevue Hospital" und anderen Krankenhäusern in Manhattan warten noch immer jeden Tag Dutzende von Menschen darauf, dass noch Vermisste eingeliefert werden. Verwundet vielleicht, aber nicht tot. Und das eine Woche nach der Katastrophe. Vielleicht warten sie auch auf ein Wunder. "Die Amerikaner sollten aufhören, zu verdrängen," hatte mir der Pastor der Deutschen Kirche von Manhattan nach dem Trauergottesdienst am Sonntag (16.09.01) gesagt. Verdrängen - das bedeutet für viele auch: nicht wahrhaben wollen, dass der Freund tot ist. Kann es sein, dass das Prinzip Hoffnung in diesen Tagen überstrapaziert wird?
New York, am 18. September 2001, eine Woche nach dem Horrorakt am World Trade Center: Es darf wieder zaghaft gelächelt werden. Und Melinda ist wieder da.