Eine Taste auf dem Aufzugtableau ist der einzige dezente Hinweis auf den Sitz der Gesellschaft, die seit Tagen eine ungeahnte Aufmerksamkeit findet. GRS, die Gesellschaft für Anlagen und Reaktorsicherheit, hat ihre Zentrale auf dem Dach einer Einkaufspassage mitten in der Kölner Innenstadt. Und während unten Klaviere, Kochtöpfe und Handtaschen verkauft werden, betrachten vier Stockwerke darüber Wissenschaftler aktuelle Bilder des havarieren Atomreaktors im japanischen Fukushima. Rund 100 Anfragen gehen dort jeden Tag ein, so viele wie sonst in einem ganzen Jahr, sagt Horst May, einer der Sprecher der Gesellschaft. Er sitzt in einem Nebenraum des großen Konferenzsaals, der hier seit dem 12. März Lagezentrum heißt.
Analysen rund um die Uhr
Das Erdbeben und seine katastrophalen Folgen für die AKW in Fukushima hat die eher ruhigen Arbeitsabläufe der mehr als 300 Mitarbeiter grundlegend verändert. "Am ersten Tag bin ich 26 Stunden auf den Beinen gewesen", erinnert sich May. So erging es auch vielen seiner Kollegen, die permanent auf die Ereignisse im Unglücksreaktor blicken. Trotz der Belastung ist ihnen anzumerken, dass sie engagiert bei der Arbeit sind. In vier Schichten haben sie sich inzwischen aufgeteilt. Sie sind Experten in ganz unterschiedlichen Wissensbereichen, doch gemeinsam schaffen sie es, sich ein Bild von dem machen zu können, was 9.000 Kilometer entfernt von ihnen gerade passiert.
Ihre Arbeit gleicht dabei einem riesigen Puzzle. Die Elemente, mit denen in Köln ein Bild geschaffen wird, sind Messdaten, Fernsehbilder und Satellitenfotos. Der Rauch, der aus einem der Gebäude aufsteigt, zeigt den Fachleuten, was darin passiert. In Kombination mit der fachlichen Bewertung ergeben sich qualifizierte Momentaufnahmen der Ereignisse. Es ist schwer genug, das Puzzle zusammenzusetzen. Doch es ist unmöglich vorherzusagen, was noch alles passieren könnte. "Dazu gibt es einfach zu viele Unbekannte", sagt May.
Schon bei Tschernobyl exakte Ergebnisse geliefert
Dass die Ergebnisse der Arbeit dennoch von bester Qualität sind, habe die Arbeit der GRS während der Reaktorkatastrophe in Tschernobyl gezeigt. Vor knapp 25 Jahren war Horst May auch schon hier tätig. Er erinnert sich, dass es seinen Kollegen gelungen war, den Ablauf des Reaktorunfalls im Wesentlichen zu rekonstruieren. "Und dass, obwohl wir nur über sehr spärliche Informationen verfügten."
Neben der Bewertung solcher Unglücke und den verschiedenen Störfällen gehört es zu den Aufgaben der Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit, Simulationen zu erarbeiten, was bei einem Unfall in einem Atomkraftwerk passieren könnte und wie mögliche Gefahren abgewehrt werden könnten. Hauptauftraggeber sind das Bundesumwelt- und das Wirtschaftsministerium. Die gemeinnützige Gesellschaft, die 1977 gegründet wurde, hat ihren Sitz in Köln und weitere Niederlassungen in Garching, Berlin und Braunschweig. Zuletzt lag der Etat bei 57 Millionen Euro. Größte Gesellschafter der GRS ist der Bund, gefolgt von den Technischen Überwachungsvereinen. Das Land NRW hält einen Anteil von vier Prozent, ebenso wie das Land Bayern.
Vertrauen in die japanischen Kollegen
"Das Wort Super-GAU ist hier nicht zu hören", sagt Horst May mit Blick auf das Geschehen in Fukushima. Nach den Erkenntnissen der Kölner Experten hat es in Japan bislang keine Kernschmelze gegeben. "Die Strahlenwerte deuten darauf hin, dass die Brennstäbe infolge des Erdbebens und der Explosionen beschädigt wurden." In die Arbeit ihrer japanischen Kollegen setzen die GRS-Mitarbeiter im Gegensatz zur öffentlichen Meinung weiter großes Vertrauen. Zur japanischen Behörde für Reaktorsicherheit pflegen die Kölner seit Jahren gute Kontakte. Horst May selbst war noch vor wenigen Wochen in Japan. Diese guten Beziehungen helfen nun dabei, die eine oder andere Hintergrundinformation zu bekommen. So verfeinert sich das Bild, das in Köln über den Reaktorunfall entsteht.
Austausch mit Journalisten und Bürgern
Die eigenen Erkenntnisse der Experten wandern nicht nur in Dossiers für Behörden, wie dem Bundesumweltministerium, sondern vor allem an die vielen Journalisten, die bei der Gesellschaft für Reaktorsicherheit Hintergrundinformationen erfragen. Meist geht es in den Gesprächen mit den Experten um Detailfragen, etwa zu den radioaktiven Strahlen oder Funktionsweisen des Reaktors in Japan. Vereinzelt melden sich aber auch Bürger mit ihren Fragen. Von denen kommen immer wieder Vorschläge, wie dem Unfall begegnet werden könne. Und die sind manchmal sehr realistisch. So zum Beispiel der Vorschlag, die Reaktorblöcke mit einem Beton-Sand-Gemisch abzudecken. Das erwägen auch die japanischen Atomfachleute.
Atomausstieg noch kein Thema
Die neu entbrannte Diskussion um die Zukunft der Atomenergie in Deutschland, ist im Lagezentrum der GRS bislang kein Thema. Die werde die Kollegen erst erreichen, wenn die aktuellen Ereignisse in Japan vorbei sind. Ob Mitarbeiter der Gesellschaft für Reaktorsicherheit auch zu den Experten gehören werden, die die deutschen Atommailer einem Sicherheitstest unterziehen werden, kann May noch nicht beantworten. Noch sind hier alle Blicke auf die Ostküste Japans gerichtet. "Und das wird wohl so lange weitergehen", sagt May, "bis die Reaktoren wieder unter Kontrolle sind und keine akute Gefahr mehr von ihnen ausgeht".