Labyrinthisch. Das ist wohl das passendste Wort, um die Büros der Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit (GRS) zu beschreiben. Denn wer zum ersten Mal den unscheinbaren Bürotrakt in einer Einkaufspassage in der Kölner Innenstadt betritt, verliert leicht die Orientierung. Dabei ist Orientierung das Spezialgebiet der GRS-Experten. Sie sammeln Daten rund um das Thema Atomkraft, analysieren sie und leiten sie an die Bundesregierung, das Umwelt- und das Wirtschaftsministerium weiter. Am 11. März 2011, am Tag der Reaktorkatastrophe von Fukushima, ist ihr Sachverstand plötzlich gefragt wie selten zuvor.
Tag der Katstrophe ist noch sehr präsent
"Ich erinnere mich noch sehr genau an das Telefonat mit einem japanischen Kollegen, gegen 10 Uhr am 11. März 2011", erzählt Dr. Michael Maqua, GRS-Ingenieur und dort zuständig für die Bewertung nuklearer Ereignisse. "Der Kollege schilderte mir in für Japaner drastischen Worten das, was man in ersten Meldungen gehört hatte." Als Maqua hört, was alles in der Anlage nicht mehr funktioniert, ist ihm klar: "Wir stehen hier kurz vor der Kernschmelze. Auch wenn es zu diesem Zeitpunkt durchaus die Chance gegeben hätte, diese zu verhindern."
Die Ohnmacht war schwer zu ertragen
Doch das Chaos ist zu groß: Die Zerstörung durch den Tsunami, der komplette Zusammenbruch der Infrastruktur, fehlerhafte Krisenkommunikation. "Dadurch ging am ersten Tag viel Zeit verloren – was die Entscheidungsfindung verzögert hat", meint Maqua rückblickend. Besonders schlimm sei für ihn gewesen, "dass man den Verlauf des Ereignisses mitbekommt und genau weiß: 'Das müssten die jetzt machen' – aber von hier aus konnten wir nicht eingreifen und helfen. Diese Ohnmacht - die ist mir schon schwergefallen." Dennoch laufen die Arbeiten in den Kölner Büros auf Hochtouren, ein Notfallzentrum wird eingerichtet, rund um die Uhr wird analysiert und eingeschätzt.
Widersprüchliche Angaben erschweren die Arbeit
Sie werten die Daten und Messwerte aus, die ihnen Kollegen aus Japan zur Verfügung stellen. Daraus verlässliche Aussagen zu destillieren sei nicht immer ganz einfach: "In drei Reaktoren ist es wohl zur Kernschmelze gekommen ist", sagt Maqua. "In welchem Umfang, das wissen wir nicht. Das ist ein großes Manko, das auch unsere wissenschaftliche Arbeit behindert: Wir können zwar Rechenmodelle laufen lassen, und die geben irgendeinen Wert ab – aber ob der mit der Wirklichkeit übereinstimmt, kann man nicht nachprüfen." Zu vielen Ereignissen rund um die Katastrophe gebe es zudem widersprüchliche Erklärungen, das erschwere die Arbeit zusätzlich.
Was wann wahrscheinlich in welchem Reaktor geschehen ist, hat Sven Dokter, Pressesprecher der GRS, auf einem langen Papier dokumentiert. Das liegt nun auf dem kleinen Besuchertisch, zu sehen ist ein Diagramm, in dem auf einer Zeitleiste minutengenau die Geschehnisse in den vier betroffenen Reaktoren aufgelistet sind. Waren die Reaktionen in Deutschland hysterisch? Und wurde sie durch die Einschätzung einer möglichen Kernschmelze noch verstärkt? "Die Prognose mit der möglichen Kernschmelze, die wir am ersten Tag abgegeben haben, stimmte ja", meint der Pressesprecher. "Aber man kann darüber diskutieren, in welcher Form und in welchem Umfang das kommuniziert und verbreitet wurde." Allerdings sei es auch durchaus natürlich, dass eine Kernschmelze irgendwo auf der Welt in den Medien "rauf und runter geht - und das ist auch angemessen".
Wie wäre die Situation in Deutschland?
Doch welche Rückschlüsse lassen sich aus der schlimmsten Reaktorkatastrophe nach Tschernobyl auf Deutschland ziehen? Auch das gehört zu den Aufgaben der GRS. "Ein ähnlicher Unfall in Deutschland hätte wahrscheinlich weit größere Schäden angerichtet", schätzt Maqua. Beispielsweise sei die Evakuierung in Japan sehr kontrolliert verlaufen. "Und die Japaner hatten Glück im Unglück, weil 90 Prozent der Radioaktivität in stabiler Wetterlage aufs Meer hinausgegangen sind." Für die laufenden Anlagen in Deutschland hieße das auch, dass man die Vorsorge für solche Notfälle verbessern könne. "Dazu gibt es auch Empfehlungen, die wir herausgegeben haben, etwa zu einem besseren Notfallschutz der Bevölkerung. Wir hoffen, dass sie in den nächsten Jahren umgesetzt werden." Fraglich bleibe, ob die Behörden auf so einen Fall vorbereitet wären. "Auch bei uns wäre ein Zuständigkeitswirrwarr zu befürchten", meint Maqua: "Wenn im französischen Cattenom etwas geschieht, werden nicht nur die entsprechenden Regierungspräsidenten im Saarland und Rheinland-Pfalz, die dafür eigentlich zuständig sind, aktiv – da wird auch Berlin mitmischen."
Schwierig ist es inzwischen auch, den Informationsfluss zu kontrollieren: "Stellen Sie sich vor, Sie wollen geordnet und mit möglichst wenig Schäden einen bestimmten Bereich evakuieren", sagt Dokter. "Aber die Leute haben übers Internet möglicherweise widersprüchliche Informationen bekommen. Wie werden die damit umgehen und sich als Masse verhalten?" Ein entsprechendes Programm zur Verbesserung der Strukturen liegt der Strahlenschutzkommission vor und wird derzeit diskutiert.
Atomausstieg als Herausforderung
Folge der Japan-Katastrophe ist zudem der Ausstieg Deutschlands aus der Atomenergie. "Unser Sachverstand wird weiterhin gebraucht, ob hier Atomkraftwerke in Betrieb sind oder nicht. Denn sowohl Endlagerung als auch der Abbau der Anlagen muss genau so ingenieurstechnisch begleitet werden," sagt Maqua. Und dann zieht Maqua, sonst ganz rationaler Ingenieur, persönlich Bilanz: "Ich habe auch Tschernobyl miterlebt, zum Teil sehr hautnah. Und diese Erfahrung hat mir deutlich geholfen. Fukushima war technisch schon sehr anspruchsvoll. Aber es hat meine innerste Überzeugung nicht tangiert."
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