Professor Reinhard Zöllner ist seit dem vergangen Sommer mit seiner Familie in Tokio, um an einem Buch über japanische Zeichentrickfilme zu arbeiten. Während des katastrophalen Erdbebens (11.03.2011) war seine kleine Tochter gerade auf dem Weg zur Grundschule, um dort am Nachmittag eine Freundin zu treffen. Als der 49-Jährige seine Tochter auf dem Schulhof abholte, hatten die Lehrer die Schüler bereits "lehrbuchartig" versammelt. Nach einem Erdbeben führt "der allererste Griff normalerweise zum Fernseher", berichtet Zöllner. Denn im japanischen Fernsehen startet sofort die Berichterstattung.
WDR.de: Bis gerade (16.03.2011) war der Strom bei Ihnen abgeschaltet. Wie ist im Moment die Situation bei Ihnen in Tokio?
Reinhard Zöllner: Es ist nach wie vor so, dass die Energie knapp ist, weil der Atomstrom fehlt. Deswegen gibt es diese so genannten rotierenden Stromsperren. In bestimmten Bezirken und zu bestimmten Uhrzeiten wird dann für etwa dreieinhalb Stunden der Strom abgesperrt. In Wirklichkeit sind die Stromsperren kürzer. Offensichtlich sind die Menschen sehr zurückhaltend mit dem Stromverbrauch. Gerade eben dauerte die Sperre etwa zwei Stunden. Insgesamt kann man sagen: Die Lage normalisiert sich. Im Supermarkt gab es heute wieder Gemüse und es gab offenbar auch Brot. Ich habe das in einigen Einkaufswagen gesehen, aber als ich kam, war das schon ausverkauft.
WDR.de: Wie haben Sie das Erdbeben am Freitag (11.03.2011) erlebt?
Zöllner: Das war schockierend. In den Monaten vorher hatten wir immer mal wieder kleinere Erdbeben. Man stellt sich dann darauf ein und denkt, dass es schnell wieder vorbei ist. Aber als die Möbel angefangen haben, sich zu bewegen, da wussten wir schon: Jetzt ist es ernst. Man hat dann so ein paar reflexartige Schutzmaßnahmen: unter den Tisch kriechen, den Kopf schützen, zur Decke schauen, ob da etwas runter kommt - das läuft halb automatisch ab.
WDR.de: In Deutschland hat man den Eindruck, dass die Japaner in dieser Katastrophe sehr besonnen sind. Wie ist die Stimmung jetzt, wo es täglich neue Schreckensmeldungen gibt?
Zöllner: Die Japaner haben eine bewundernswerte Haltung. Für sie ist es schon eine physische und psychische Belastung - das ist jedem einzelnen Japaner anzusehen. Sie stehen alle unter Hochspannung, aber hier zeigt sich auch, dass Japaner in der Lage sind, unter diesen Bedingungen sehr konzentriert Leistungen zu erbringen, vor denen man nur Respekt haben kann. Das geht vom Zugfahrer, über die Kassiererin im Supermarkt, bis hin zu den Feuerwehrleuten, Soldaten und Technikern, die ihr Leben riskieren, um in diese hochverstrahlten Kraftwerke zu gehen.
WDR.de: Mehrere Hilfsorganisationen aus Deutschland sind schon nach wenigen Tagen aus Japan zurückgekehrt. Man konnte den Eindruck gewinnen, dass die ein bisschen enttäuscht darüber sind, dass die japanische Regierung nicht offiziell um Hilfe bittet. Wie schätzen Sie das ein? Sind die Japaner zu stolz, um die Weltöffentlichkeit um Hilfe zu bitten?
Zöllner: Das ist ein völlig falscher Eindruck. Die Regierung und die Bevölkerung sind sehr dankbar für internationale Hilfe. Das Technische Hilfswerk war eine der ersten Organisationen, die in Japan nach der Katastrophe eingetroffen sind. Die Mitarbeiter des THW sind nach der Ankunft interviewt worden und haben bei den Japanern zunächst einen glänzenden Eindruck gemacht. Was ich jedoch überhaupt nicht verstehen kann: Nach drei Tagen ist das THW wieder abgerückt und hat erklärt, die Suche nach Überlebenden habe keinen Sinn mehr. An dem Tag darauf sind Rettungstruppen aus Neuseeland eingetroffen und haben mit der Suche nach Überlebenden begonnen. Wie das zusammenpasst, soll mir bitte jemand vom THW in Ruhe erklären. Der Eindruck, den man auf der einen Seite geschaffen hat - "hilfsbereite Deutsche" - wird sofort wieder zerstört. Es wirkt auf mich so: "Jetzt ist da Radioaktivität und die Deutschen ziehen sich zurück."
WDR.de: Gibt es dafür noch andere Beispiele?
Zöllner: Lufthansa fliegt jetzt nicht mehr Tokio an, sondern nur noch Nagoya und Osaka. Andere Fluggesellschaften machen Programm nach Plan. Ich bin wirklich erschüttert. Das hat damit zu tun, wie über die Ereignisse in Deutschland berichtet wird. In den letzten Tagen habe ich das Wort "Apokalypse" immer wieder gehört. Seit Freitag erlebe ich jeden Tag eine Neuauflage des Spiels "Deutschland sucht den Super-GAU". Das reicht mir! Ich kann nicht verstehen, warum man die Augen vor den Tatsachen verschließt. Hier sind hunderttausende Flüchtlinge zu versorgen und Deutschland macht sich Gedanken darüber, ob Tokio verstrahlt ist.
WDR.de: Aber es wurde doch eine erhöhte atomare Strahlung in Tokio gemessen...
Zöllner: Ja, die Strahlung war erhöht - und ich kann genau erklären, was das bedeutet. Wenn die Strahlung, wie sie gestern (15.03.2011) war, 200 Tage lang angehalten hätte, dann wäre das dieselbe Strahlung gewesen, die ein Deutscher pro Jahr durch Röntgenbilder aufnimmt. Und heute ist die Strahlung so niedrig, dass wir bei 400 Tagen angekommen wären. Wenn man von einem niedrigen Niveau ausgeht, ist eine Verdoppelung oder Verdreifachung der Strahlung eine enorme Zahl - aber was heißt das konkret? Im Moment heißt das gar nichts.
Gefahr durch Strahlung
WDR.de: In Fukushima wurde heute versucht, die Reaktoren mit Wasserwerfern zu kühlen. Das sieht nach Verzweiflung aus. Wie bewerten das Ihre japanischen Freunde?
Zöllner: Meine japanischen Freunde und Verwandten sind davon überzeugt, dass da Fehler gemacht worden sind und wahrscheinlich immer noch Fehler gemacht werden. Aber bislang ist es nicht zu einem Tschernobyl gekommen. Auf welche Weise Kühlwasser zugeführt wird, kann uns doch egal sein. Von mir aus können die Leute auch eine Eimerkette bilden, wenn es funktioniert. Und bitteschön, welches Land hat bislang das Problem gehabt, dass vier Atomreaktoren gleichzeitig so verrückt spielen? Ich glaube schon, dass die Techniker ziemlich genau wissen, was sie tun.
WDR.de: Der Deutsche Akademische Austauschdienst (DAAD) hat allen deutschen Studierenden und Professoren in Japan angeboten, sie nach Hause zu holen. Wie ist die Stimmung unter den deutschen Akademikern?
Zöllner: Wer im Südwesten ist - soweit ist das von hier beurteilen kann - ist weder durch eine Einschränkung im Lebensalltag betroffen, noch einer hypothetischen Gefahr durch Radioaktivität ausgesetzt. Eine Gruppe von Studenten, die in Shisioka sind, hatten gestern Nacht ein Erdbeben, aber Gott sei Dank gab es nur einige Verletzte und Sachschäden. Wir haben einen Studenten, der für ein Praktikum im Nordosten Japans war. Der ist in Sicherheit, bei einer japanischen Gastfamilie, die sich rührend um ihn kümmert. Er möchte aber gerne wieder nach Shisioka - das Problem ist, er müsste von der kleinen Stadt, wo er gerade ist, in die nächstgrößere Stadt gebracht werden. Er hat bei der deutschen Botschaft angefragt, ob die ihm helfen können. Er hat mir dann geschrieben: "Die haben mich fast ausgelacht." Da ist eine große Diskrepanz zwischen den großartigen Hilfsangeboten und den praktischen Möglichkeiten, die der deutsche Auswärtige Dienst hat. Der DAAD wird seiner Verantwortung für die Studierenden gerecht, das will ich nicht in Abrede stellen.
WDR.de: Wie groß ist die Gefahr für Deutsche denn?
Zöllner: Ich denke, dass man klar und deutlich sagen sollte: Für die meisten Deutschen in Japan besteht keinerlei Gefahr. Ich sehe selbst, dass von den Eltern und Freunden aus Deutschland natürlich besorgte Anfragen kommen und mehr oder weniger die Aufforderung, nach Deutschland zurückzukehren. Ich kann gut verstehen, wenn sich jemand unter den aktuellen Bedingungen in Japan nicht wohlfühlt. Aber ich finde, es ist nicht richtig, dass eine Art psychologischer Druck aufgebaut wird. Die Deutsche Botschaft reagiert da nach meiner Einschätzung sehr vernünftig. Die fragt, ob man in Japan noch eine Aufgabe hat, ob man gebraucht wird oder ob man nach Hause fahren möchte. Die sagen nicht: "Raus hier." Das wäre auch fatal. Wir feiern in diesem Jahr 150 Jahre deutsch-japanische Beziehungen und wenn die Deutschen die ersten sind, die in so einer Situation abhauen, wäre das nicht besonders vorbildhaft.
WDR.de: Was wünschen Sie sich für die nächsten Tage und Wochen?
Zöllner: Ich habe sehr viele besorgte und aufmunternde Nachrichten aus Deutschland bekommen. Freunde und auch Fremde haben den Deutschen und auch allen Japanern Unterstützung angeboten. Das ist großartig. Aber wenn sie sich engagieren wollen, dann doch in dem Wissen, dass Japan ein hoch entwickeltes Land ist und die Japaner ihre eigenen Vorstellungen entwickelt haben, wie man mit solchen Katastrophen umgeht. Und das ist nicht immer der deutsche Weg. Aber in der Vergangenheit haben die Japaner eigentlich bewiesen: Ihr Weg ist ein effizienter Weg.
Das Interview führte Katrin Schlusen.