Ihre neuen Wohnungen in dem roten Backsteinbau sind noch recht übersichtlich eingerichtet. Die weißen Wände nackt, nur spärlich ist das Mobiliar auf dem taubenblauen Teppich verteilt. Viel Raum für Phantasie also. Und genau so hat sich Künstler Jochen Gerz das wohl auch vorgestellt, als er vor Jahren die wahnwitzige Idee zu dem Projekt hatte. Gratiswohnraum in drei Ruhrgebietsstädten für ein ganzes Jahr bot er in einer Anzeige feil. An die neuen Bewohner, die nur die Nebenkosten zahlen müssen, hat er allerdings eine Bitte: Sie sollen im Kulturhauptstadtjahr 2010 an einem Buch mitschreiben - über ihr Leben im Ruhrgebiet.
Neuer Geist im alten Viertel
Über 1.400 Menschen von überall her folgten dem Ruf des Künstlers, rund 70 sind nun ausgewählt. Sie werden in Duisburg, Dortmund und Mülheim Quartier beziehen und ihre Gratis-Wohnungen zur kreativen Zone machen. "Wir wollen in einem Jahr die Straßen verändern. Hier soll ein neuer Spirit einziehen", sinniert Jochen Gerz, der mit seinen Arbeiten immer die Öffentlichkeit in die Kunst mit einbezieht. Warum das im Ruhrgebiet so gut klappen könnte, weiß Gerz auch. "Hier gibt es ein unheimliches Potential, es wird nur schlecht verkauft. Ich will da etwas nachpolieren." Bis jetzt, so findet der Künstler, sei das Ruhrgebiet jedenfalls ein "eigenartig echoloser Raum". Und dann fügt er hinzu: "Ich will, dass die Leute die Wirklichkeit genauso neugierig und mit der selben Zuneigung ansehen, wie ein Werk von Picasso. Unsere Gesellschaft ist anders als es aussieht."
Duisburg als Experiment
"Auch Menschen, die sich nichts mit Kunst zu tun haben, interessieren sich für unser Projekt", weiß Gerz. Dem kann André Koernig nur zustimmen. Ein "Kunstbanause" sei er, nun ist er als neuer Mieter mittendrin im Kunstprojekt. Vor zwei Wochen ist der Handelsvertreter aus Nordhorn in das rote Backsteinhaus in Duisburg-Hochfeld gezogen. Das Expriment hat ihn gereizt. "Das Leben kann ja nicht nur aus Arbeit und immer gleichen Abläufen bestehen."
Der freie Schriftsteller und Japanologe Achim Stegmüller ist direkt mit der ganzen Familie nach Duisburg gezogen. Er hatte wohl die weiteste Anreise - aus Japan. "Ich habe bis vor kurzem in der Nähe von Osaka gelebt - auch eine Metropole. Ich hatte einfach Lust aufs Ruhrgebiet, weil man hier in Bewegung bleibt. Man kommt und ist gleich mitten drin." Auch Martin Gemsheimer musste nicht lange überlegen, um sich beim Gerz-Projekt zu bewerben. Der Fotodesign-Student hat bereits jetzt viele Kontakte zu Duisburger Künstlern.
Das Ruhrgebiet als Neuland betreten der gebürtige Marokkaner Latif G. und sein Lebensgefährte Julian K. Die beiden kommen aus Münster und hoffen in Duisburg auch auf mehr Respekt für ihre Partnerschaft. "Der Stadtteil ist so lebhaft, wie eine Stadt in Marokko", schwärmt Latif.
Schreiben ohne festen Plan
André Koernig hat zumindest schon mal einen Tisch und eine funktionierende Kaffeemaschine in seiner neuen Küche. Auch den Laptop hat er schon bekommen. Denn schließlich soll er - wie die anderen rund 70 Teilnehmer des Projektes auch - regelmäßig über sein Leben im Revier schreiben. "Ich habe noch keinen Plan", sagt der 43-Jährige. "Ich werde einfach aus dem Bauch heraus schreiben, was mich bewegt und was mir so passiert. Meinen türkischen Lieblingsbäcker habe ich übrigens schon gefunden." Und eigentlich gäbe es sowieso nur drei Strategien, das Jahr zu durchleben. "Entweder man findet neue Freunde, oder man hat nen Sprung in der Schüssel, oder man steigt wieder aus."