Ein Chor, der ganz ohne Musik auskommt: Die Bewegungen der Chormitglieder erinnern an einen Tanz, ihre Mimik und die ausschweifenden Gesten wiederum zeigen eindeutig die Nähe zur Gebärdensprache. Aus ganz Nordrhein-Westfalen kommen die Teilnehmer des Projektes regelmäßig nach Essen, um die Choreografie einzustudieren. Am 5. Juni - beim Kulturhauptstadtprojekt "Day of Song" - werden sie den Gefangenenchor aus der Oper Nabucco auf ihre Weise begleiten, während rund 8.000 Sänger in der Schalker Arena die Musik dazu liefern. 200 Chöre bringen Verdis Worte zu Gehör, ein Chor aus Gehörlosen übersetzt sie in Gebärden.
Musik spüren statt sie zu hören
Mandy Fredenhagen aus Köln ist begeistert von der Projekt-Idee. "Es ist eine ganz andere Art und Weise, sich auf meine Sprache einzulassen" erklärt sie dem Reporter in Gebärdensprache, eine Dolmetscherin übersetzt. "Es ist ein Gefühl, als ob meine Hände zaubern könnten. Für mich ist es total schön, das zu sehen und selbst dabei sein zu dürfen", so die 39-Jährige. Petra Lieber aus Witten berichtet, dass sie früher oft in Discos war, wo sie die Bässe deutlich spüren kann. "Ich mag Musik gerne und sie fehlt mir sehr. Als ich von diesem Chor gelesen habe, habe ich mich sofort angemeldet."
"Keiner denkt mehr: Ach die Armen"
Die Idee zu einem Gebärdenchor hatte Irmgard Merkt, Professorin an der Dortmunder Fakultät für Rehabilitationswissenschaften. "Ich dachte, beim 'Day of Song' müssten auch behinderte Menschen teilnehmen. Sie entwickeln hierbei eine eigene Körpersprache, einen besonderen Rhythmus mit viel Ästhetik und Poesie." Der Aspekt der Behinderung, so Merkts Wunsch, soll komplett in den Hintergrund treten. "Da verändert sich die Wahrnehmung auch von Menschen mit Gehör und keiner denkt: Ach, die Armen. Ich will die Sichtweise auf Menschen mit Behinderung anders lenken."
Mimik und Gestik der Musik anpassen
Wenn der Chor der Hörgeschädigten seine Figuren nach Verdis Motiven synchron darstellt, dann ist das trotzdem keine Eins-zu-eins-Übersetzung der Worte in Gebärdensprache. "Dass bei einem normalen Opernchor jeder Zuhörer die einzelnen Worte genau versteht, bezweifle ich", sagt Chorleiter Tomato Pufhan. So sieht er auch seine Aufgabe in der Interpretation des Inhalts: "Wir machen viel größere Bewegungen, als normalerweise. Alles mit vollem Körpereinsatz, ganz intensiv."
Teilnehmer werden immer selbstbewusster
Tomato Pufhan ist selbst gehörlos und probt mit den Chormitgliedern, wie sie mit ihrer Gebärdensprache möglichst "musisch umgehen". Weil er vor dem Chor steht, muss er die Choreografie immer spiegelverkehrt vorführen. "Es geht vor allem um Emotion, um fließende Bewegungen und ausdrucksstarkes Mienenspiel." So aus sich heraus zu gehen, kostet die Teilnehmer zum Teil große Überwindung.
Monatelange Probenarbeit für den Auftritt in Gelsenkirchen
Doch von Probe zu Probe werden sie selbstbewusster, legen sie mehr Gefühl in die Gebärdensprache. Wenn schließlich 40 Chormitglieder gleichzeitig die Arme vor der Brust verschränken und mit gequälter Miene ihre Gefangenschaft andeuten - dann ist das der besondere Moment, auf den die Macher seit Monaten hinarbeiten. Und auf den sich die fast 70.000 Besucher des "Day of Song"-Konzerts in Gelsenkirchen freuen dürfen.