Als der neue Umweltminister Johannes Remmel (Grüne) Dortmund im Juli 2010 besuchte, hatte er eine bittere Diagnose: "Der PCB-Skandal in Dortmund hat die Dimension, einer der größten Umweltskandale der letzten zehn Jahre zu werden". Und das, obwohl der mutmaßliche Verursacher, die Firma Envio, doch lange Zeit als ein vorbildliches Umweltunternehmen in Dortmund galt. Envio hatte sich darauf spezialisiert, PCB-verseuchte Transformatoren zu reinigen und zwar mit - so die Eigenwerbung - einem der "sichersten und umweltfreundlichsten Verfahren weltweit". Noch 2009 gehörte Envio zu den Ökoprofit-Unternehmen in Dortmund - so dürfen sich Firmen nennen, die sich besonders um die Umwelt verdient machen. Dabei war schon damals der Umwelt- und Arbeitsschutz mangelhaft.
2006: Landesumweltamt misst hohe PCB-Werte
Bei Messungen zur Feinstaubbelastung in unmittelbarer Nähe des Envio-Geländes fallen hohe PCB-Werte auf. Der Verursacher oder die Verursacher müssen aus dem Industriegebiet Hafen kommen, stellten die Behörden fest. Dort arbeiten mehrere Schrottentsorger.
11. September 2008: Anonymer Hinweis
Das Dortmunder Umweltamt erhält einen detaillierten anonymen Hinweis auf Unregelmäßigkeiten bei Envio. Das Umweltamt informierte laut einer Dortmunder Zeitung die Bezirksregierung per E-Mail über den Vorgang und legt das zweiseitige Anschreiben dann zu den Akten. In dem Schreiben, das dem ARD-Magazin Monitor vorliegt, heißt es: "Transformatoren werden illegal zwischengelagert und ohne Genehmigung verarbeitet. Auf die Gefahren von PCB wird keine Rücksicht genommen. Mitarbeiter arbeiten ohne Schutzkleidung."
22. September 2008: angemeldete Kontrolle
Bei einer (angemeldeten) Betriebsbesichtigung durch die Bezirksregierung erkennen Mitarbeiter Medienberichten zufolge, dass "wesentliche Teile" der Anlage nicht genehmigt sind. Der Besuch bleibt ohne Konsequenzen: Trotz der Mängel darf der Betrieb weiter laufen. Am 27. November 2008 notiert ein Mitarbeiter der Bezirksregierung: "Somit wird keine Stilllegungsanordnung getroffen."
28. April 2010: Fegeproben im Zelt
Die Bezirksregierung lässt den beim Zerlegen der Transformatoren entstandenen PCB-Staub in einem Zelt auf dem Envio-Gelände zusammenfegen und ins Labor schicken. Das Ergebnis der sogenannten Fegeprobe: Das Zelt ist hochgradig mit PCB belastet. Gleichzeitig lassen sich zwei Envio-Mitarbeiter auf eigene Kosten untersuchen: Bei ihnen werden die höchsten PCB-Belastungen im Blut nachgewiesen.
20. Mai 2010: Envio wird dichtgemacht
Das Ergebnis der Fegeproben kommt aus dem Labor zurück. Die Bezirksregierung macht Envio dicht. Die Staatsanwaltschaft nimmt die Ermittlungen auf.
26. Juni 2010: 25.000-fach erhöhte PCB-Werte im Blut
Die Untersuchungsergebnisse von 30 Envio-Mitarbeitern liegen vor und schockieren die Öffentlichkeit: Zum Teil liegt die PCB-Belastung bis zu 25.000-fach über der Durchschnittsbelastung der Bevölkerung. Dr. Michael Hagmann, der als Gewerbearzt für das Land an den Untersuchungen beteiligt war, sagt, PCB-Werte wie bei Envio in Dortmund seien ihm in 20 Berufsjahren nicht untergekommen.
26. August 2010: Entwarnung für Anwohner
Weitere Ergebnisse von Blutuntersuchungen liegen vor. Für Anwohner, Kleingärtner und Menschen, die in der Nähe etwa in einer Gaststätte oder einer Kita arbeiten, gibt es weitestgehend Entwarnung. Gleichzeitig werden weitere Blutuntersuchungen von Envio-Mitarbeitern, Leiharbeitern und Mitarbeitern von Nachbarfirmen bekannt gegeben. Fünf Betroffene haben stark erhöhte PCB-Werte.
1. September 2010: Hilfe für Opfer läuft an
Ärzte der Uniklinik Aachen beziehen Räume in einem Krankenhaus in Dortmund-Brackel. In den kommenden Wochen wollen sie über 200 Menschen, bei denen erhöhte PCB-Werte im Blut festgestellt wurden, untersuchen und beraten. PCB-Belastungen können vor allem Haut, Nervensystem und Organe schädigen.
26. Oktober 2010: Insolvenz für Tochterfirmen
Envio meldet für zwei Tochtergesellschaften - die Envio Recycling GmbH & Co. KG und die Envio Germany Geschäftsführungs GmbH - Insolvenz an. Der Anwalt der Geschädigten, Rolf Michael Quittmann, fürchtet, dass sich das Unternehmen aus der Verantwortung stehlen will.
30. November 2010: Hauptversammlung der Envio AG
Die Hauptversammlung beschließt, dass der Sitz der Firma nach Hamburg verlegt wird. Zudem erhalten die Aktionäre eine Sachdividende in Form von Aktien an einer neuen Firma, der Bebra Biogas Holding. Branchenkenner vermuten, dass das Kapital der Firma verschoben werden soll, um möglichen Schadensersatzansprüchen zu entgehen.
1. Dezember 2010: Sanierung dauert länger
Regierungspräsident Gerd Bollermann (SPD) gibt bekannt, dass die Sanierung des Envio-Betriebsgeländes länger dauern wird als geplant. Grund für der Verzögerung sind gerichtliche Auseinandersetzungen mit Envio. Fest steht auch, dass 1,8 Millionen Euro - die Summe, die als Sicherheit gefordert wurde - nicht ausreichen werden, um das Gelände zu reinigen. Ein Ingenieurbüro hatte zudem festgestellt, dass die Envio-Hallen auch in den Wänden und Decken mit PCB belastet sind.
24. Juni 2011: Anklage gegen Envio-Mitarbeiter erhoben
Die Staatsanwaltschaft Dortmund teilt mit, dass sie Anklage gegen vier Envio-Mitarbeiter erhoben hat: Es handelt sich um den früheren Geschäftsführer der Envio Recycling GmbH & Co. KG, einen ehemaligen Betriebsleiter, einen externen Immissionsschutzbeauftragten und einen ehemaligen Werkstattmeister des Recycling-Unternehmens. Die Ermittlungen gegen Mitarbeiter der Bezirksregierung Arnsberg werden im gleichen Monat eingestellt.
Juni 2011: 360 Menschen sind mit PCB verseucht
Die Uniklinik Aachen untersuchte in einem Langzeitprogramm mutmaßliche Envio-Geschädigte. Bei 360 Menschen stellt sie erhöhte PCB-Belastungen fest. "Wir haben vor allem bei den PCBs, die über Luft und Haut aufgenommen wurden, zum Teil sehr hohe Belastungen festgestellt. Die höchsten Belastungen, die jemals in Deutschland gemessen wurden", erklärt Professor Thomas Kraus von der Uniklinik Aachen.
5. Dezember 2011: Insolvenzverfahren eröffnet
Vor dem Amtsgericht Dortmund wird das Insolvenzverfahren gegen die Envio Recycling GmbH & Co. KG eröffnet. 56 Gläubiger melden Forderungen in Höhe von 12 Millionen Euro an.
30. April 2012: Landesregierung veröffentlicht Abschlussbericht
Die Ministerien für Arbeit und Umwelt veröffentlichen ihren Abschlussbericht zu den Konsequenzen aus dem Envio-Skandal. Das Personal in der Umwelt- und Lebensmittelüberwachung sowie beim Arbeitsschutz soll aufgestockt werden. Um das Beschwerdemanagement zu verbessern, wurde unter anderem eine zentrale Hotline für Arbeitnehmer eingerichtet. Ziel der Maßnahmen ist, Umweltskandale in der Größenordnung des Dortmunder PCB-Skandals künftig zu verhindern.
9. Mai 2012: Envio-Skandal kommt vor Gericht
Zwei Jahre nach der Aufdeckung des PCB-Skandals beginnt die juristische Aufarbeitung vor dem Landgericht Dortmund. Auf der Anklagebank sitzen vier frühere Mitarbeiter der inzwischen insolventen Envio Recycling GmbH & Co. KG. Dem Ex-Geschäftsführer und einem früheren Betriebsleiter wird das "unerlaubte Betreiben einer Abfallentsorgungsanlage", Körperverletzung und den "unerlaubten Umgang mit gefährlichen Stoffen in einem besonders schweren Fall" vorgeworfen. Einem externen Immissionsschutzbeauftragen und dem ehemaligen Werkstattleiter wird Beihilfe zum "unerlaubten Betreiben einer Abfallentsorgungsanlage" zur Last gelegt. Alle vier Angeklagten schweigen am ersten Prozesstag zu den Vorwürfen. Die auffälligen Blutwerte der Mitarbeiter seien nicht auf Fehler im Betriebsablauf bei Envio zurückzuführen, sagte der Anwalt des Ex-Geschäftsführers. Sie ließen sich vielmehr plausibel mit "ungesunden Lebensstilfaktoren" dieser Mitarbeiter erklären.
4. Juli 2012: Essener Arbeitsmediziner sagt als Gutachter aus
Sind die Erkrankungen von Envio-Mitarbeitern auf die erhöhten PCB-Mengen in ihrem Blut zurückzuführen? Es sei "aktuell nicht möglich", aus den Ergebnissen der Blutuntersuchungen solche Rückschlüsse zu ziehen, erklärt der Essener Gutachter Albert Rettenmeier. Er beruft sich dabei auf die ihm zur Verfügung stehenden Krankenakten. Das Dortmunder Landgericht will Rettenmeier deshalb ermöglichen, die mit PCB belasteten Envio-Mitarbeiter selbst zu untersuchen.