Das Endspiel hat Hans Sternheimer in der Vereinsgaststätte verfolgt. Am Fernseher erlebte er, wie Rahn aus dem Hintergrund schießen musste, es tat und Deutschland zum Fußball-Weltmeister 1954 machte. Ausgerechnet Rahn, den Sternheimer noch ein paar Jahre zuvor an einem Sonntagmorgen hier in der Gaststätte des Sportplatzes "Am Lindenbruch" in Essen hatte wecken müssen, weil der spätere WM-Held sonst ein Auswärtsspiel der Sportfreunde Katernberg verpasst hätte.
Rahns Tor verändert die Republik
50 Jahre später fischt Sternheimer Erinnerungsstücke aus jener Zeit aus einem Pappkarton. Um die Schrift auf der Rückseite der Fotos zu entziffern, muss der 85-Jährige zusätzlich zur Brille eine Lupe zur Hilfe nehmen. Der Diabetes hat die Augen angegriffen. Doch die Erinnerungen an die Erfolge der Sportfreunde, denen er 43 Jahre lang die Kasse führte, sind alle noch da. Schatzmeister Sternheimer hatte auch Helmut Rahn sein Vertragsspielergehalt und die paar Mark Prämien ausgezahlt, als "der Boss" Anfang der 50er Jahre für Katernberg gegen den Ball trat. Sein Tor im WM-Finale holte das Land aus der Nachkriegsdepression. "Wir haben uns natürlich gefreut, dass einer unserer ehemaligen Spieler das Siegtor gemacht hat", erinnert sich Sternheimer. Dass ein Junge aus dem Ruhrgebiet die Zeit des Wiederaufbaus mit einem strammen Linksschuss abschloss, ist Zufall, aber ein symbolträchtiger. Der Wiederaufbau des Landes hat viel mit den Zechen zu tun und die Zechen viel mit dem Neuanfang des Fußballs im Westen.
Skepsis der Alliierten
Als der Krieg im Ruhrgebiet am 17. April 1945 vorbei war, lagen auch der Sport und seine Einrichtungen in Trümmern. Schon bald begannen Spieler und Funktionäre ihre Vereine wieder oder neu zu gründen. Man beseitigte die Kriegsschäden in den Stadien, skeptisch beäugt von den Alliierten. Die Sport- und Turnvereine waren Untergliederungen des Nationalsozialistischen Reichsbundes für Leibesübungen (NSRL) und galten deshalb als faschistische Organisationen, deren Aufgabe es auch gewesen war, die Deutschen kriegstauglich zu machen.
Allerdings wurde das Sportverbot von einzelnen britischen Kommandanten eher lax gehalten. So kickten in Castrop-Rauxel schon am 7. Juli 1945 Auswahlmannschaften der nördlichen und der südlichen Stadtteile gegeneinander. Im September 1945 ließ die britische Militärverwaltung die Gründung von Vereinen auch offiziell wieder zu und ab Dezember durften sogar die alten Traditionsnamen wieder verwendet werden.
Zuschauerandrang in der Oberliga West
Es fehlte an allem: Trikots, Fußballschuhe, Bälle waren Mangelware. Doch von Beginn an strömten die Zuschauer. Die Sehnsucht nach Ablenkung vom elenden Nachkriegsalltag war groß, und der Fußball war als Unterhaltungsangebot anfangs praktisch konkurrenzlos. Als die neu gegründete Oberliga West am 14. September 1947 ihren ersten Spieltag absolvierte, verfolgten 100.000 Zuschauer die sechs Partien. Zwischen 15.000 und 17.000 Zuschauer waren auch "Am Lindenbruch" keine Seltenheit. Eine Mark kostete der Eintritt für ein Heimspiel der Sportfreunde Katernberg, die in der ersten Oberliga-Saison erst am letzten Spieltag von Borussia Dortmund an der Tabellenspitze verdrängt wurden. "Da mussten wir dann den Leuten sagen: Geh Du da hin und Du da", erzählt Sternheimer. "Die Tribünen waren ja nur Erdhügel." Auf dem Bahndamm hinter dem Sportplatz hielten während der Spiele sogar die Züge. Die Organisation des Ligabetriebs war nicht leicht. Zwar wurde die Oberliga West bald auch die Straßenbahnliga genannt, weil viele ihrer Klubs aus dem Ruhrgebiet und oft sogar aus den gleichen Städten dort kamen. Doch die damals höchste Spielklasse umfasste eben das gesamte Gebiet des späteren Bundeslandes Nordrhein-Westfalen. "Um zu den Auswärtsspielen nach Münster, Aachen oder Dellbrück zu kommen, mussten wir einen Triebwagen der Bahn oder einen Bus organisieren", erzählt Sternheimer.
"Kohle" von den Zechen
Dafür brauchte es Unterstützung, ohne die etwa die Sportfreunde Katernberg gar nicht erstklassig hätten spielen können. "Wenn die Zeche Zollverein uns nicht unterstützt hätte, wäre das nicht möglich gewesen", sagt Hans Sternheimer. Auch bei anderen Vereinen waren es die Zechen, Motor des wirtschaftlichen Wiederaufbaus in der Bundesrepublik, die halfen, den neuen Spielbetrieb auf die Beine zu stellen. So tauchten in der Oberliga West immer wieder "Zechenklubs" wie etwa der SV Sodingen aus Herne auf, der es Mitte der 50er Jahre bis in die Endrunde um die Deutsche Meisterschaft schaffte. Mit dem Zechensterben begann auch der Niedergang dieser Vereine.
Die Zechen versorgten die Spieler häufig auch mit einem Arbeitsplatz. Denn gegen Profis wehrten sich die Funktionäre des Deutschen Fußball Bundes bis in die sechziger Jahre. So arbeiteten viele der Kicker offiziell in den Zechen, meist in leichteren Jobs "über Tage". Zusätzlich bekamen sie als Vertragsspieler zwischen 160 und 320 Mark im Monat vom Verein. Fußballer zählten auch damals durchaus schon zu den Besserverdienenden. "Das war ein doppeltes Gehalt, damit konnte man sich schon etwas mehr erlauben", sagt Willi Burgsmüller.
Traum von der Borussia
13 Jahre alt war Burgsmüller, als der Krieg zu Ende ging. In den Nachkriegsjahren war auch für ihn der Fußball alles. "Wir waren immer nur am pölen. Was hatten wir denn noch? Das war doch praktisch nur der Fußball." Zunächst spielte er in der Schülermannschaft von Westfalia Huckarde im Westen von Dortmund. Alle dort hatten sie nur ein großes Ziel. "Zur Borussia zu kommen, das ist der Ehrgeiz gewesen", erinnert sich Burgsmüller.
Der BVB war in den Nachkriegsjahren der erfolgreichste Verein in Nordrhein-Westfalen. Zwischen 1948 und 1957 beendeten die Borussen die Saison sechs Mal als Meister der Oberliga West. 1956 und 1957 wurde der Klub sogar Deutscher Meister - mit Burgsmüller, für den der Jugendtraum 1951 in Erfüllung ging. Zu den Heimspielen der Borussia fuhr er anfangs noch mit der Straßenbahn von Huckarde in die Innenstadt und lief dann zu Fuß zum Stadion Rote Erde. Eine Stunde dauerte das. Dann wurde ein bisschen aufgewärmt und los ging's. Nach den Spielen ging die Mannschaft dann geschlossen ins Hotel Bender in der Dortmunder Innenstadt, vom Verein ausgestattet mit einem Gutschein für ein Abendessen und ein Glas Bier. "Das war unser Spaß."