Martin Baumann ist Religionswissenschaftler an der Universität Luzern. Er ist auf Hinduismus und Buddhismus spezialisiert und hat zum Thema "Migration, Religion, Integration" geforscht. Als Wissenschaftler verfolgte er den Bau des Hindutempels in Hamm-Uentrop mit besonderem Interesse. Seiner Meinung nach passt der Begriff "Toleranz" nicht auf Hindus. Denn für sie ist es selbstverständlich, dass es unterschiedliche Götter wie Maria, Jesus oder Mohammed gibt, die auf unterschiedliche Weise verehrt werden können.
WDR.de: Als einer der größten Hindutempel Europas 2001 in Hamm gebaut wurde, sind die Hindus zum Teil auf sehr schroffe Ablehnung gestoßen. Wie gehen Hindus damit um?
Martin Baumann: Es waren einzelne Stimmen aus der Bevölkerung in Hamm-Uentrop, die damals zu hören waren. Vor allem war es Angst vor Unbekanntem, vielleicht auch ein Ventil für anderweitige Problemlagen. Die Hindus selber haben sehr defensiv reagiert. Priester Paskaran ist nicht an die Öffentlichkeit getreten, bzw. erst spät, als er in Interviews gefragt wurde. Er hat sehr deutlich gesagt: "Wir akzeptieren, hier zu leben, damit akzeptieren wir auch solche Probleme, wir versuchen zu vermitteln".
Die tamilischen Hindus, die den Tempel gegründet haben, sind nicht zuletzt auch dankbar, dass sie in Deutschland Aufnahme gefunden haben vor dem Bürgerkrieg in Sri Lanka. Man war sehr zurückhaltend in dem Konflikt, der Tempel konnte gebaut werden und eine der größten Kritikerinnen dieses Tempels, die in der Bevölkerung gegen die neuen Hindu-Nachbarn agitiert hatte, hat sich circa drei Jahre später mit dem Priester fotografieren lassen, als es um Gemeinderatswahlen ging.
WDR.de: Ist das die klassische Art, mit Konflikten umzugehen?
Baumann: Nicht unbedingt. Den Tempel in Hamm betreiben überwiegend Tamilen, die in Deutschland als wenig privilegierte Gruppe leben. Viele haben kein dauerhaftes Bleiberecht und einige ein nur geringes Einkommen. In Indien selber haben Hindus zum Teil ein sehr anderes Auftreten. Gerade von rechtschauvinistischen nationalistischen Kreisen wird der Hinduismus herangezogen, um Gruppen auszugrenzen und Rechte zu beschneiden. Zum Beispiel bei der Auseinandersetzung um die Babri-Moschee in Nordindien sagten sie, diese Moschee sei zu zerstören, weil dort der Legende nach ein Tempel des Hindu-Gottes Rama gestanden habe. Da ist man sehr offensiv und gewalttätig aufgetreten. Man muss die jeweiligen lokalen Bedingungen stets sehr genau beachten.
WDR.de: Hindus nehmen wir als friedliche Zeitgenossen wahr. Gibt es wirklich so wenige Probleme?
Baumann: Das westliche Bild neigt dazu, Hindus Toleranz und Friedfertigkeit zuzuschreiben, oft als Spiegelbild dessen, was hier in Europa vermisst wird. Hindus und Buddhisten bekommen sozusagen ein Positivimage zugeschrieben, während das Bild der islamischen Tradition derzeit sehr negativ ist. Doch der Islam wurde in Europa im 17. und 18. Jahrhundert zum Teil glorifiziert. In den islamischen Ländern war sozusagen das Leben von 1001 Nacht, dort waren Mathematik, die Wissenschaft vorhanden. Die Wahrnehmung ändert sich also mit den Zeiten und je nach Umständen.
Hinduismus als tolerante, friedliche Religion - der Eindruck speist sich aus dem Bild über Personen wie Gandhi, Nehru usw. Außerdem wird unterstellt, dass es eine Religion sei, in der keine Konflikte und keine Mission vorhanden seien, als Gegenbild zum missionierenden Christentum und Islam. Es gibt durchaus Probleme, gerade durch die starke Politisierung des Hinduismus in Indien, besonders in Nordindien, wo viele Konflikte aufgetreten sind und klare Tendenzen der Ausgrenzung und der Gewalt festzustellen sind.
WDR.de: Mission ist häufig eine Quelle von Konflikten. Missionieren Hindus?
Baumann: Eine alte Streitfrage ist: Muss man zum Hindu geboren sein, oder kann man auch konvertieren? Da gibt es verschiedene Stimmen unter der Priesterschaft in Indien. Einige sagen: "Wer sich als Hindu versteht, vegetarisch lebt und bestimmte Pflichten einhält, der ist ein Hindu." Andere sagen: "Nein, man muss als Hindu geboren sein, eine Hindu zur Mutter haben, in der Kastenordnung aufgewachsen sein." Da gibt es sehr verschiedene Auffassung, von konservativ bis progressiv:
Im 20. Jahrhundert sagten Hindutraditionalisten: "Wir wollen in Indien lebende Muslime, Buddhisten oder Jainas zum Hinduismus "zurück" holen und konvertieren. Im Westen lebende, indischstämmige Hindus hingegen missionieren weitgehend nicht.
Die zweite Schiene sind die westlichen neuen religiösen Bewegungen - früher verunglimpfend als "Sekten" bezeichnet -, die sich auf bestimmte hinduistische Lehren zurückbeziehen. Die haben das Konzept, dass ihre Spiritualität, ihre hinduistische Religiosität für die ganze Menschheit da sei und von jedem, jeder übernommen und ausgeübt werden könne. Hier haben wir schon eine eindeutig missionarische Ausrichtung, jedoch in keiner Weise aggressiv oder zahlenbezogen umfangreich.
WDR.de: Der Begriff Hinduismus war ja in der Kolonialzeit eine Sammelbezeichnung für alle indischen, nicht muslimischen Glaubensrichtungen. Unter dem Dach Hinduismus finden sich also ganz unterschiedliche religiöse Richtungen. Gibt es Spannungen?
Baumann: Nicht wirklich. Es gibt in den hinduistischen Schriften sehr viele Polemiken gegeneinander. Welche Methode ist die beste, um Erleuchtung zu erlangen? Wer hat die besten Lehrer? Aber es sind nicht in dem Sinne weitreichende Auseinandersetzungen. Grundlegend steht hier die Idee dahinter, dass das Göttliche sich in vielerlei Erscheinungen zeigt und unterschiedliche Arten der Verehrung möglich sind.
Es gibt zudem Dokumente, dass es zwischen den Traditionen durchaus gewaltsame Auseinandersetzungen gab. Es gab sie zwischen den Sadhu-Orden, den Orden der Asketen, um Fragen wie: Wer hat das Vorrecht an diesen oder jenen zentralen Pilgerorten die Prozessionen anzuführen und damit Prestige zu erhalten. Wer hat das Vorrecht, als erstes in das heilige Wasser steigen?
Aber Konflikte, wie man sie von Europa kennt, wie der 30-jährige Krieg, das ist für Indien so nicht verzeichnet - diese religiös begründete Gewalt. Möglicherweise, weil es vorrangig nicht um religiöse Ideen - um Dogmen - ging, sondern um die Praxis. Eine Frömmigkeitspraxis, Bhakti genannt, führt nicht zu einem Streit um Ideen, um Begriffe und Konzepte.
Es geht mehr um das korrekte Verhalten der Menschen, das Befolgen der Kastenordnung, das Befolgen der Pflichten. Die Ideen sind zweitrangig, im Vordergrund steht die Praxis, das Tun. Und da kann man dann unterschiedliche Götter auf unterschiedliche Weise verehren.
Das Gespräch führte Anneke Wardenbach.