Martin Suter und Benjamin von Stuckrad-Barre: Kein Grund, gleich so rumzuschreien
Diogenes, 320 Seiten, 26 Euro.
"Es kann darin um alles gehen, und es muss um nichts gehen."
Eine gute Maxime für ein Buch, in dem es zwar nicht um alles, aber sehr vieles geht: Um die Frage, wie man angemessen kondoliert genauso wie um Rauschmittel oder um Rasenmähroboter. Ein Palaver? Eher eine Causerie, eine Plauderei ohne Scheu vor Trivialitäten. Man lauscht ihr lesend durchaus gern. Sie kreist auch um die "moralische Eitelkeit" von sich in politische Debatten mengenden "Podiumsdiskussionsschriftstellern": Posen der Anmaßung, die Martin Suter und Benjamin von Stuckrad-Barre beide belächeln.
"Da staune ich immer, das ist ja etwas, was auch in unserem Beruf viele befällt: diese Eitelkeit. Man wird dazu befragt, und wo die Eitelkeit dann sagt: Ja, ich kann das beantworten. Wenn man dagegen das beschreibt, womit man sich auskennt und was man unmittelbar erlebt, das ist doch hundert Mal interessanter."
Womit sich beide auskennen, das sind persönliche Trauerfälle in ihrer Familie. Martin Suters langjährige Frau Margrith starb 2023, Benjamin von Stuckrad-Barres Vater Jobst in diesem Frühjahr erst. Von seinem Tod erfuhr sein mit ihm seit langem zerstrittener Sohn absurderweise durch eine Direct Message auf Instagram: ein Bekannter schickte ihm ein Foto der Todesanzeige. Man mag den Gedanken, den Stuckrad-Barre danach hatte, makaber finden oder ehrlich, aber er lautete:
"Oh, das ist jetzt gut für das Buch, dass ich jetzt auch einen Todesfall habe, damit das nicht nur bei Martin ist. Das ist das Buch, merkte ich plötzlich, jetzt haben wir ein Buch. Und das ist ja ganz merkwürdig, so auf das Leben zu schauen, aber für mich ist es eine Rettung. Aber es ist für keinen von uns beiden: ‚Das habe ich mir jetzt mal von der Seele geredet, und das tut mir gut‘ (...) Nein, nein, das muss außerhalb der Kunst stattfinden, ja, die Therapie oder das Darüber-Wegkommen oder das Bewältigen. Das muss in dem Sinne schon kalt sein, wenn man das so sagen kann, damit man da mit Autorität darüber verfügen kann künstlerisch, sonst ist es Kitsch und eine Zumutung für den Leser und einfach unerheblich."
So kaltherzig das klingen mag: Stuckrad-Barre folgt hier schlicht Gottfried Benns Credo "Man muss das Material kalt hallten. Man muss etwas heiß empfinden, aber um es aufzuschreiben, braucht man einen kühlen Kopf – und alle Hände."
"Also ich habe abgesehen von einem guten Freund, habe ich einen sehr guten, wachen, gewandten Gesprächspartner..."
...so der 76jährige Martin Suter, der hier, man muss es so deutlich sagen, als Stichwortgeber des 49jährigen Benjamin von Stuckrad-Barre fungiert.
"Ich habe an ihm einen absolut verlässlichen Freund, und das ist das Höchste, was man zusammen tun kann, ist etwas zusammen herstellen. Text herstellen, erst mal absichtslos, also gar nicht ‚Wir müssen ein Buch machen!‘ Wir müssen gar nichts. Das ist für mich die Schönste Art von Kunst, das Spielen, miteinander spielen."
Tatsächlich spielt sich das Schriftsteller-Duo gekonnt die Bälle zu, und kommt zu klugen Einsichten wie der, dass es das gern beschworene "klärende Gespräch" nach dem Ende einer Beziehung vermutlich gar nicht geben kann.
"'Dieser Unfug der Versöhnung auch, das klärende Gespräch ... das ist schwer zu begreifen, dass es das wohl gar nicht gibt, auch in Freundschaften oder, wenn die Liebe zu einer Frau zerbricht.' 'Du meinst, das klärende Gespräch kann es aus Prinzip nicht geben?' 'Ich glaube nicht. Ich habe es schon oft versucht oder erhofft, dieses allesklärende Argument nur noch, bloß eine letzte Frage, dieser eine Brief – selbst wenn schon jahrelang kein Wort mehr gewechselt wurde, und man aber trotzdem noch eine Wut in sich hat oder eine Schuldempfindung oder eine schwelende Unklarheit, irgendein Gefühl zu viel jedenfalls. Jetzt noch einmal dies sagen, und dann sind wir endlich wieder einer Meinung, nämlich meiner, weil die unwiderlegbar ist. Alles Unsinn.'"
"Kein Grund, gleich so rumzuschreien" ist tiefgründiger geraten als der erste Gesprächsband "Alle sind so ernst geworden". Und doch muss man bei manchen treffenden Beobachtungen Suters und Stuckrad-Barres hier und da auch einfach lachen.
"Da erweist sich dann eigentlich erst, ob man es ernst meint mit dem Humor, wenn man den auch dann in der Krise – gerade dann – durchzieht."