"Züricher Novellen" von Gottfried Keller

Stand: 23.01.2025, 07:00 Uhr

"Welch strömendes Erzähl-Genie!", schwärmte Thomas Mann über die Kunst des Schweizers Gottfried Keller. Die „Züricher Novellen“ bilden den würdigen Abschluss einer Edition mit Hörbüchern seiner sämtlichen Werke. Eine Rezension von Christoph Vratz.

Gottfried Keller: Züricher Novellen (Hörbuch)
Gelesen von Frank Arnold, Torben Kessler, Michael Quast, Stefan Kaminski, Martin Vischer und Ulrich Noethen.
Sinus Verlag.
2 CDs mit 3 Booklets (Laufzeit: 14 Stunden und 50 Minuten), ca. 80 Euro.

Der Titel "Züricher Novellen" deutet es bereits an: Diese fünf Novellen von Gottfried Keller spielen nicht an einem erfundenen Ort, sondern in Zürich und Umgebung. Außerdem sind es Geschichten mit vielen historisch nachweisbaren Figuren. Doch von Seiten des Lese-Publikums braucht es kein historisches Vor- oder Hintergrund-Wissen, um den Texten gut folgen zu können.

"Gleich unterhalb des aargauischen Städtchens Kaiserstuhl stehen die beiden Schlösser Schwarz- und Weiß-Wasserstelz, jenes mitten im Rhein, das heißt näher dem linken Ufer und jetzt noch von allerlei Leuten bewohnt, die es kaufen mögen, dieses zerfallen auf dem rechten Ufer."

Die erste Geschichte führt in die spätmittelalterliche Zeit der Minnesänger. "Hadlaub", so der Titel, bezieht sich auf den historischen Johannes Hadeloube und die Entstehung der berühmten Manessischen Liederhandschrift.

"Einige Verzierung der Schrift mit schönfarbigen Tinten gehörte an sich schon zum klösterlichen Schreibewerk; allein hierbei blieb er nicht stehen, sondern suchte bei naiven Bildkünstlern jener Zeit, wie sie etwa in den Bauhütten der beiden Münster zu treffen waren, so viel Erfahrung abzulauschen, als zur Bemalung eines halben oder ganzen Pergamentblattes erforderlich war."

Auch die zweite Novelle, "Der Narr auf Manegg", schließt thematisch an das Schicksal der Liederhandschrift an. Ein Herumtreiber und Möchtegerngroß stiehlt die berühmte Sammlung und schlüpft seinerseits in die Rolle eines Minnesängers.

"[E]r gewann eine schwache Ahnung, um was es sich darin handle, und beschloss sofort, ein alter Minnesinger zu sein. Ohne Verstand und Zusammenhang schrieb er mit elender Hand verschiedene Seiten aus und ergänzte sie mit Verszeilen eigener Erfindung, Verse von jenem schauerlichen Klang, der nur in der Geistesnacht ertönt und nicht nachgeahmt werden kann. Solche Anfertigungen trug er bei sich, wenn er umherstreifte."

Die wohl bekanntesten Texte von Kellers "Züricher Novellen" sind "Der Landvogt von Greifensee" und "Das Fähnlein der sieben Aufrechten". Dessen Handlung spielt zu Kellers Lebzeiten und bezieht sich auf die Bildung eines Schweizer Bundesstaates. Die Aufrechten – das ist ein freundschaftliches Bündnis von sieben Handwerkern und Gastwirten, allesamt Eidgenossen und Freiheitskämpfer.

"Der Schneidermeister Hediger in Zürich war in dem Alter, wo der fleißige Handwerksmann schon anfängt, sich nach Tisch ein Stündchen Ruhe zu gönnen. So saß er denn an einem schönen Märztage nicht in seiner leiblichen Werkstatt, sondern in seiner geistigen, einem kleinen Sonderstübchen, welches er sich seit Jahren zugeteilt hatte [...], nur um darin zu lesen."

Mit sechs Sprechern ist die neue Hörbuch-Ausgabe der "Züricher Novellen" besetzt, darunter Frank Arnold (der die Rahmenhandlung liest), Stefan Kaminski, Martin Vischer (wie gerade im "Fähnlein der sieben Aufrechten" gehört) und Ulrich Noethen. Er liest die längste dieser Erzählungen, "Ursula", die Liebesgeschichte zwischen einem Züricher Militär und Ursula Schnurrenberger.

"Hansli Gyr hatte soeben nur an Ursula gedacht und erkannte sie vielleicht gerade deswegen nicht sogleich, als die gereifte weibliche Gestalt ihm entgegenkam, die Arme öffnete und ihm um den Hals fiel. Erst als ihre weiche Brust auf seinem fühllosen Harnisch lag, erkannte er sie an dem Schnitt ihres ernsten Mundes, den sie ihm zum Kusse bot [...]."

Gleich mehreres an dieser Gottfried-Keller-Hörbuch-Ausgabe, die jetzt mit den "Züricher Novellen" ihren Abschluss findet, ist herausragend gelungen: Zum einen die umsichtige Wahl der Sprecher mit ihren unterschiedlichen gestalterischen Ansätzen, mit ihren Timbres, Tempi und Temperamenten; zum anderen die Aufmachung der Edition: Alle Texte sind in vollständiger Länge in den beiliegenden Booklets abgedruckt. Dazu gibt es, vom Herausgeber Albert Bolliger minutiös betreut, mehrere Essays und ein ausführliches Glossar.

Mir ist kein Verlag bekannt, der so viel Sorgfalt und Aufwand für die Gestaltung seiner Hörbücher aufbringt wie der Sinus-Verlag – geschweige denn, dass das Gesamtwerk eines Autors umfassend erschlossen wird. Insofern reihen sich diese "Zürcher Novellen" nahtlos ein in eine mustergültige Edition von bleibendem Wert.