"Leichter Schwindel" von Mieko Kanai

Stand: 12.02.2025, 07:00 Uhr

Kein Aufbruch, kein Ausbruch: Der japanischen Schriftstellerin Mieko Kanai gelingt es, die Monotonie des Mittelschichtlebens in prägnante Prosa zu fassen. Eine Rezension von Dirk Hohnsträter.

Mieko Kanai: Leichter Schwindel
Aus dem Japanischen von Ursula Gräfe.
Suhrkamp, 2024.
174 Seiten, 23 Euro.

Am Anfang von Mieko Kanais Roman "Leichter Schwindel" steht eine sich über nicht weniger als drei Seiten erstreckende, schier endlose Begründung der Wahl einer Wohnung:

"Für die Wohnung mit den großen Balkonen nach Süden und Osten und der geräumigen Wohnküche hatten sie sich nicht etwa deshalb entschieden, weil Natsumi eine passionierte Köchin, und schon gar nicht, weil sie besonders stolz auf ihre Kochkünste gewesen wäre, sondern wegen ihrer Ähnlichkeit mit den von ihr begehrlich bewunderten Interieurs in diversen Hochglanzzeitschriften, wegen der Kochinsel mit Theke, der letzte Schrei und bestimmt praktisch, und vor allem auch, weil die Wohnungstür nicht wie in ihrem bisherigen Living-Dining- Kitchen-Apartment mit zwei Schlafzimmern, kein Neubau, in die Küche führte und der Blick nach rechts direkt auf Spüle, Gasherd und Kühlschrank fiel (…)"

Die gedehnte Erläuterung des Gewöhnlichen verrät Thema und Ton dieses Buches: der Alltag in seiner Mittelmäßigkeit und Monotonie. Dass man dennoch weiterliest, liegt an der ungewöhnlichen Beobachtungsgabe, genauen Sprache und illusionsfreien Schonungslosigkeit der japanischen Autorin:

"Als sie, des ganzen Aufhebens überdrüssig, die Post mit den neuesten Ausgaben von Zeitschriften wie Science, Nature und National Geographic, die ihr Mann abonniert hatte, aber in letzter Zeit (ohne sich überhaupt die Mühe zu machen, die Umschläge zu öffnen) einfach auf den Stapel in seinem Arbeitszimmer legte, durchsah, fand sie darunter eine an ihn adressierte Postkarte mit dem Bild eines geflügelten Cupido, der einen Pfeil in ein rosafarbenes Herz schoss, und der Aufschrift GUTE NEUIGKEITEN in großen rosa Lettern, der, als wollte jemand ganz sicher gehen, noch in tanzenden rosafarbenen Buchstaben das Wort HAPPY hinzugefügt war."

Der Roman spielt im Tokio der 1990er Jahre. Die Protagonistin Natsumi steckt in Ehe, Mutterschaft und Haushalt fest; sie führt ein belangloses Mittelschichtsleben, in dem sich nichts Bemerkenswertes ereignet. Im Gegensatz zu vergleichbaren Büchern ist diese Konstellation jedoch nicht der Ausgangspunkt einer unerhörten Begebenheit, sondern bereits das ganze Buch. Nichts passiert, wie etwa eine Episode zeigt, in der Natsumi einen alten Einkaufszettel wiederfindet:

"Wenn auch beglückt über das wiedergefundene Taschentuch musste Natsumi beim Überfliegen der Liste feststellen, dass sie fast identisch war mit der, die sie gerade mit einem Stift aus dem beigefarbenen Keramiktöpfchen auf dem Esstisch, in dem französische Senfkörner gewesen waren, auf ihren MUJI-Memo-Block im A6-Format geschrieben hatte, mit dem einzigen Unterschied, dass sie noch geriebenen Käse und Spaghetti im Schrank hatte, also nicht kaufen musste, und statt Küchentücher und Müllsäcke, Schwämme, Toilettenpapier und Olivenöl notiert hatte, dass die Listen jedoch abgesehen von diesen kleinen Abweichungen beinahe vollständig übereinstimmten, rief ein erdrückendes Gefühl von Überdruss in ihr hervor."

Die zehn Kapitel tragen Überschriften wie "Wasser aus dem Hahn" oder "Haare auf dem Kopfkissen" und lassen eine Welt aus Fertiggerichten und Markennamen anschaulich werden, erzählen von beschichteten Sperrholzmöbeln, die mehr Wohlstand vorgeben, als tatsächlich vorhanden ist, berichten von allerlei Krempel, den man irgendwie zu brauchen meint und – kaum benutzt – Jahre nach der Anschaffung dennoch wegwirft.

In Kanais hochdetaillierte und bisweilen aus seitenlangen Aufzählungen zusammengesetzte Alltagsschilderung eingeschoben sind Passagen, die Fotoausstellungen und die darin gezeigten Bilder besprechen. Was zunächst irritierend wirkt, erweist sich als eine poetologische Reflexion. Hier werden indirekt ästhetische Überzeugungen formuliert, denen dieser Roman folgt. Es geht der Autorin, wie sie selbst in einem kurzem Nachwort formuliert, um das Erfassen der Wirklichkeit, nicht um das Erfinden einer Geschichte:

"Während ich nach der Fertigstellung des Manuskripts von Leichter Schwindel an meinem Nachwort schrieb, wurde mir einmal mehr bewusst, dass mich als Schriftstellerin die sogenannten 'dramatischen' Ereignisse wenig interessieren. Wahrscheinlich wird meiner Heldin Natsumi auch in Zukunft nichts Dramatisches zustoßen. Und wenn doch, dann wohl in einem anderen Roman."