Folge 3: Jew Noir – Who framed the jew?

Teil 2/2 - Teil 2

Daniel Donskoy:  Ich starrte auf meinen Rechner. Sollte ich mich dann doch erst einmal wieder um meinen Freund Max kümmern? Ich tippte "Max Czollek" und "Vaterjudendebatte" in die Suchleiste und überflog die Suchergebnisse. Ich klickte auf die Links zu Artikeln verschiedener Medien: "Falsche Identitäten: Von der deutschen Sehnsucht, Jude zu sein", "Unter Gaffern", "Wer Jude ist, bestimme ich" - und so weiter.

Humm… so viele Autoren und Autorinnen, die sich dazu geäußert hatten und offenbar besser wussten, ob Max Jude ist oder nicht. Das alles zu lesen war Arbeit. Ehh… ich hasse Arbeit. Aber wenn ich sein Verschwinden verstehen wollte, dann kam ich nicht drum herum. Gut, draußen erwartete mich auch nur so ein trostlos verregneter Novembertag. Und so saß ich im Licht meiner Schreibtischlampe und meines Laptops in meinem kleinen Büro und studierte das Internet – bis ich zu müde war und die Buchstaben vor meinen Augen verschwammen –  oder hieß es verschwommen? Egal, mein Kopf war eine einzige halachische Wolke. Ich musste an die frische Luft. Nein besser – ich musste in eine Bar und etwas trinken, um auf andere Gedanken zu kommen. Wie lange hatte ich das schon nicht mehr gemacht? Ich konnte mich nicht erinnern.

Daniel Donskoy: Ich ging in meine Lieblingskneipe gleich in der Nähe meines Büros: das "Barbylon". Ich weiß, über den Namen lässt sich streiten – über die Gemütlichkeit, die hier herrscht, jedoch nicht. Zum Glück lebe ich in Berlin, hier darf man noch rauchen. Hier saß ich öfter allein in einer Ecke und trank Whisky, um über das Leben nachzudenken. Eine Bar mit dem richtigen Ambiente, um die losen Fäden eines Falls zu verbinden. Als ich sie betrat, musterten mich die wenigen Anwesenden. Es war überschaubar viel los. Vor allem einsame Männer. Ehhh… ich hasse einsame Männer. Einige von ihnen saßen an der Bar und unterhielten sich angeregt durcheinander. Einen von ihnen erkannte ich: Jan Feddersen, Journalist und Redakteur bei der Berliner Tageszeitung. Eigentlich wollte ich für mich sein, aber als Feddersen mich erkannte und mich zu sich herüber winkte, da war es um meine Einsamkeit geschehen. Ich setzte mich zu ihm und bestellte erstmal ein frischgezapftes Bier. Wir smalltalkten vor uns hin – aber als ich irgendwann den Namen Nemi El-Hassan und den WDR erwähnte, da schäumte es regelrecht aus ihm heraus.

Jan Feddersen: Ich würde einfach sagen, es gibt tatsächlich ein massives Problem, was den Mietmarkt anbetrifft. Man hat bei privaten Vermietungen immer den Nachteil, dass man mit einem arabisch oder türkisch klingenden Nachnamen sehr oft schlechtere Chancen hat. Und das gleiche gilt auch, also auf dem Jobmarkt - auch nicht überall. Also da geht es um Mittelschichtjobs. Was jetzt stattfindet, ist so eigentlich eine Aufmerksamkeitsökonomie zugunsten eines All-Opferseins. Man muss viel mehr arbeiten als die, die es sowieso über einen bildungsbürgerlichen Haushalt haben schaffen können. Schaffen ja auch nicht alle, aber man kann nicht einfach vor sich... - das will schon irgendwie knechtisch erarbeitet sein.

Daniel Donskoy: "All-Opfersein", "Hinopfern" – ich hätte nicht gedacht, dass ein Journalist der linken taz so argumentiert. Hatte sich Nemi El-Hassan wirklich als Opfer inszeniert? Da war ich mir nicht sicher, schließlich hatte sie nicht mit der ganzen Sache angefangen, sondern wollte einfach nur eine Wissenschaftssendung moderieren.

Jan Feddersen: Ja, aber dann müssen wir eben auch wirklich über den progressiven Gedanken reden. Ich finde zum Beispiel so, wie das die SPD aktuell im neuen Bundestag gelöst hat, also es sind wahnsinnig viele – wie sagt man das in der identitären Sprache – Nichtweiße über die SPD in den Bundestag gekommen. Aber dass man aus dem Nicht-Weißsein da jetzt irgendwie eine besondere Diskriminierungserfahrung macht, lass ich schon nicht mehr gelten. Nicht automatisch sind alle Nicht-Weißen Opfer und nicht automatisch sind alle weißen Täter. Das sind im Grunde genommen bequeme Zuweisungen. Das ist im Grunde genommen die KiK-Version einer echt konsistenten Theorie.

Daniel Donskoy: Ja, als Theorie würde ich das auch nicht bezeichnen, aber fehlende Gleichberechtigung und mangelnde Diversität in vielen Bereichen unserer Gesellschaft ließen sich ja nicht einfach so von der Hand weisen. Ich hatte nur ein paar Schlücke Bier getrunken und war schon leicht angeheitert, was vermutlich daran lag, dass ich den ganzen Tag nichts gegessen hatte. Ich bestellte mir schon mal einen Whisky und ging auf die Toilette. Irgendein Typ, der aus einer der Kabinen kam, bot mir einen Blowjob an. Ich lächelte und lehnte dankend ab. Hast Du etwas, womit ich mich betäuben kann? Er lachte. Ich zog und spülte. Der Abend war gerettet. Als ich wieder an die Bar kam, stand mein Drink auf dem Tresen – und Feddersen hatte uns zwei Kurze bestellt. Eigentlich wollte ich mich nicht betrinken, daher nippte ich zunächst nur am Schnaps. Feddersen erzählte rauschhaft weiter. Von El-Hassan kam er irgendwie auf Israel / Palästina...

Jan Feddersen: Also das ist wirklich gruselig. Ich denk immer so, die Leute könnten doch auch mal über Menschenrechtsverletzungen in Paraguay reden oder Sudan. Oder es böte sich ja immer an, über das postsowjetische Regime in der Ostukraine zu reden. Wir dekonstruieren ja ständig in modernen Regieweisen über Kriminalfälle. Das kriegt man selbst bei Tarantino irgendwie erklärt, ...

Daniel Donskoy: Ich hasse Tarantino!

Jan Feddersen: …wenn Leute andere Leute umbringen, also ist ja quasi das triviale Muster immer, schlechte Kindheit, dies das. Wir kriegen immer erklärt, warum was passiert, aber es gibt Sachen, die ich nicht verstehe. Und warum jetzt Israel dämonisiert wird, warum so ein bisschen Dämonisierung, unbedingt die Voraussetzung ist für ein Ticket, um überhaupt beim stubenreinen Diskurs mitmachen zu dürfen.

Daniel Donskoy: Wie war er bloß auf Tarantino gekommen? Ich sah ihm dabei zu, wie er vor mir saß und wild gestikulierte. Mir wurde leicht schwindelig.

Jan Feddersen: Ich finde Israel ganz toll, wo ich bin, ist links! Wo ich bin, ist liberal, wo ich bin, ist differenziert! So, und ich finde, dann darf ich auch sagen, dass Israel großartig ist.

Daniel Donskoy: Ich bemerkte wie ich Schwierigkeiten bekam, meinen Blick auf ihn zu richten. Feddersen wirkte irgendwie größer, irgendwie näher als zuvor, seine Worte bruchstückhafter.

Jan Feddersen: Ich würde sagen, diese Diskursverschiebung ist antiisraelischer geworden, aber das hat weniger mit der taz zu tun, als dass diese Diskursverschiebung erstens schon seit vielen Jahrzehnten stattfindet und ich glaube, dass man diesen "change“ also sehr genau datieren kann. Also plötzlich war Israel nicht mehr gemeinsames WG-haftes Hava Nagila-Singen und Orangen pflücken und Aktion Sühnezeichen; dass man quasi - oh, die armen jüdischen Opfer und die ganzen Anne Franks ...

Daniel Donskoy: Oh Gott, was habe ich bloß konsumiert.

Jan Feddersen: … und selbstbestimmt. Das waren quasi Leute, die haben gesagt: Leute wisst ihr was, ihr könnt uns mal, wir machen hier unser Ding. Also ein staatliches Start-Up, also mit jüdischem Grund-Appeal ...

Daniel Donskoy: Ich hasse Startups. Irgendwie wirkte Feddersen plötzlich wie ein großer Biber. Oder ein Schmetterling? Ich konnte es nicht mehr unterscheiden. Seine Worte kamen jetzt aus allen Richtungen und verwandelten sich in schillernde Farben, die sich vor mir in lange Streifen verzogen.

Jan Feddersen: … eine sehr starke Neigung zum Opferismus, zum Liebhaben, auch zur Pädagogik.

Daniel Donskoy: Pä-da-go-gik. Dieses Wort sah irgendwie so schön aus wie es so leicht wie eine Seifenblase durch den Raum schwebte … Nein, ich hasse Pädagogik!

SONG "Die Wahrheit Schreit"

Putin am Drücker
Deutschland am Rüsten
Alles wär gleich
Auch wenn wir es wüssten

Wir tragen Sterne
Angst in der Ferne
Alles beim Alten
Grenzen statt Falten

DIE WAHRHEIT
Schreit
DIE WAHRHEIT
WEINT

Wer ist Aggressor
Wer schießt Raketen
Israel Russland Assad die Sudeten
Befreier und Peiniger
Treffen sich heute
ALLES AUF ANFANG

DIE WAHRHEIT
Schreit
DIE WAHRHEIT
WEINT

Daniel Donskoy: Ich erwachte schlagartig aus einem tiefen Schlaf. Und ich fühlte sofort, dass ich mich nicht gut fühlte. Meine Kopf pochte und dröhnte – aber immerhin funktionierte er noch. Mit meinem ersten Gedanken stellte ich fest, dass ich gerade noch in einer Bar war. Zu meiner Verwunderung lag ich jedoch nicht auf dem Boden im Barbylon, sondern auf einem weichen Untergrund. Ein Bett. Ich war ich bis auf die Shorts ausgezogen und zugedeckt. Oh Mann, bitte nicht Jan Feddersen.

Nachdem ich mich vergewissert hatte, dass ich tatsächlich wach war, schaute ich mich um. Nein, das sah hier nicht nach einer Wohnung aus, in der ein Jan Feddersen wohnen würde – aber meine war es auch nicht. Das Geheimnis war gelüftet, als plötzlich eine Frau im Türrahmen stand und mich amüsiert beobachtete: Mirna. Mirna Funk, die femme fatale des deutschen Porsche-Journalismus. Ehhh, ich hasse Journalismus, aber Mirna mag ich. Wie ich hier hergekommen war, wollte ich wissen – aber sie lächelte nur und meinte, dass sie mir das später erzählen würde. Erstmal Frühstück und was gegen den Kater. Ehhh, ich hasse Kater. Und so saß ich wie ein ausgespuckter Kaugummi mit Mirna am Küchentisch und wusste nicht so recht, wie mir geschah. Was sie sichtbar zu amüsieren schien. Während ich mit zittrigen Händen Mühe hatte, meine Kaffeetasse zu halten, war das erste, was mir als Smalltalk-Thema einfiel natürlich – Nemi El-Hassan. Ich fragte Mirna, was sie von Solidaritätsbekundungen hält.

Mirna Funk: They can go fuck themselves.

Daniel Donskoy: Ich verschluckte mich an meinen heißen Kaffee.

Mirna Funk: Selbstverständlich ist Nemi El-Hassan eine Antisemitin. Eine, der es nicht bewusst ist, dass sie antisemitisch ist, die natürlich sich nicht als Antisemitin bezeichnen will und ich glaube, wenn man vor allem ihren ihren letzten Text in der Berliner Zeitung gelesen hat, dann wird einem relativ deutlich, dass das sie ganz viel noch zu lernen hat, die kleine Nemi.

Daniel Donskoy: Wie ich es von Mirna kannte – eine ganz klare Meinung.

Mirna Funk: Ich glaube, es gibt enorm blinde Flecken für das, was eigentlich Antisemitismus ist. Und das liegt daran, dass wir in einer Nachkriegsgesellschaft leben, also in einer Post-Holocaust Gesellschaft, an der über Jahrzehnte sich überhaupt nicht mit Antisemitismus beschäftigt wurde, sich über Jahrzehnte nicht damit beschäftigt wurde, dass hier nicht ein Raumschiff gelandet ist, 1933 mit zehn bösen Männern an Bord, die das Trinkwasser vergiftet haben und ganz Deutschland zu Antisemiten gemacht haben, die so unglaublich irre Vorstellungen, dass das irgendwie eine gemeine Räuberbande war, die die armen guten Deutschen und die geliebten Juden getötet hat. Das ist das große Problem, das wir heute innerhalb der Gesellschaft sehen und dass wir selbstverständlich im Öffentlich-Rechtlichen sehen, aber auch im Privatfernsehen, quasi in jedem Menschen, der nicht jüdisch ist. Denn wir haben es mit 2000 Jahren Judenhass zu tun, der nicht einfach so weggehen wird, außer man setzt sich mit ihm auseinander.

Daniel Donskoy: Gut, in diesem Punkt stimmte ich ihr zu. Aber wie konnte sie als liberaler Mensch es gut finden, dass hier einfach auf rassistische Weise eine Frau von einigen Medien gecancelt wird.

Mirna Funk: Was mit Nemi passiert ist, ist selbstverständlich Cancel Culture. Und ich bin gegen Cancel Culture. Ich bin aber auch gegen Nemi. Und ich bin dagegen, dass Nemi Raum zum öffentlichen Sprechen bekommt, weil sie sich ihrer eigenen antisemitischen Vorurteile nicht bewusst ist. Das ist ein Widerspruch, in dem wir leben. Das Leben ist ein Widerspruch. Es gibt keine Antwort darauf. Ich lehne ab, dass Nemi ihren Job verloren hat. Gleichzeitig lehne ich ab, dass Nemi einen Job im öffentlich-rechtlichen Fernsehen bekommt.

Daniel Donskoy: Ich konnte ihren Zwiespalt nachvollziehen. In dieser Sache war nicht alles schwarz-weiß, sondern eher schwarz rot gold – ehhhh, ich meine grau schattiert, wie Köln. Ich trank meinen Kaffee und dann verabschiedete ich mich. Ob sie es war, die mich bis auf die Boxershorts ausgezogen hatte, fragte ich nicht. Es war bereits Mittag und ich war vom Alkohol und den Drogen so richtig platt. Ich wusste nicht, ob es sich nach Nemis Text in der Berliner Zeitung noch lohnte, mit ihr zu sprechen. Es klang wie eine Verabschiedung aus dem Diskurs. Auch wenn ich nach wie vor dazu bereit gewesen wäre.

Vielleicht sollte ich mich nun erst einmal intensiver um meinen Freund Max kümmern – der womöglich tatsächlich jemanden zum Reden brauchte. Aber erst einmal musste ich wieder einigermaßen in meinem Körper ankommen. Ja! Dampfbad! Ehhh, eigentlich hasse ich Dampf! Das Harām – die angesagteste Sauna der Stadt. Als ich das Etablissement betrat und mir der gewohnte Schweißduft entgegenströmte, staunte ich nicht schlecht. Im Eingangsbereich kam mir der Schriftsteller Nele Pollatschek frisch geduscht mit nassem Haar entgegen. Was für ein Zufall! Sie hätte ich nun wirklich nicht hier erwartet. Gerade hatte ich noch ihren Text  in der Süddeutschen gelesen – fand ihn sehr, äh, differenziert – "Unter Gaffern". Irgendwie ein passender Titel für eine Sauna. Wir begrüßten uns – und als wir ein paar Worte gewechselt hatten, regte sie sich erst einmal über den Umgang mit Nemi El-Hassan auf.

Nele Pollatschek: Was Personen privat machen, geht uns nichts an. Der Arbeitgeber hat ein Recht auf Deine Arbeitszeit und (Du) Deine Privatzeit gehört Dir und da kannst Du die schrecklichsten Gedanken haben. Du musst kein guter Mensch sein, um einen Job bei einem öffentlich-rechtlichen Sender zu haben. Du musst beruflich die Werte des öffentlich-rechtlichen Fernsehens vertreten. Das andere ist, Dein Job ist Journalist, was Du auf Instagram likest, was Du auf Twitter likest, was Du tweetest, all das ist Teil Deines Berufs, das ist nicht privat. "Jeder Mensch darf pädophil sein, kein Mensch darf mit kleinen Kindern schlafen." Das, was in Deinen Hirnwindungen hinten vorgeht, das geht uns nichts an. Das ist sozusagen die Würde des Menschen, ein Arschloch sein zu dürfen und nicht Gesetze brechen zu dürfen und nicht auf der Arbeit und nicht und so weiter und so fort. Das sind zwei völlig unterschiedliche Dinge.

Daniel Donskoy: Aber eigentlich wollte ich gar nicht mit ihr über Nemi El-Hassan sprechen. Viel lieber wollte ich persönlich von ihr wissen, wie sie als "echte" Jüdin zur Diskussion um Max steht.

Nele Pollatschek: Ich folge Max, ich mag ihn total gerne. Wir waren schon öfters auf Veranstaltungen zusammen und was überhaupt nicht geht, ist, dass sich in dieser Debatte sich Nichtjuden einmischen mit und im Prinzip Juden einen Vorwurf machen, dass sie irgendwie Politik betreiben, wenn sie darüber reden, wer jüdisch ist und wer nicht jüdisch ist. Und dass sozusagen diese Chuzpe von Nichtjuden mit dem Gedanken, wir wären jetzt unglaublich links und liberal und woke und sonst irgend ... also nicht, dass Leute über sich selbst - aber Du weißt, was ich meine.

Dass zu denken, Du bist auf der Seite des Guten, wenn Du Juden erklärst, wie sie zu entscheiden haben, wer Jude ist und wer nicht Jude ist, aber ich halte meine Meinung da für irrelevant. Für mich, na ja, Mann, na klar ist Max Jude. Like, who cares? Und: I don’t care. Ich würde sagen: "Ja, Vaterjuden, jüdisch sozialisiert, pff, bist du Jude." Aber ich sehe auch, dass es mir nicht sehr wichtig ist und dass es Leute gibt, denen das sehr wichtig ist. Es gibt Juden, die betreiben Judentum nicht nur als Hobby, sondern denen ist Jüdischsein total wichtig.

Daniel Donskoy: Also alles wie immer: zehn Juden, elf Meinungen. Ehehe, ich hasse Meinungen. Aber wo war Max? Ihren Namen hatte ich nicht auf der Solidaritätsbekundung gelesen. Hatte Nele etwas mit seinem Verschwinden zu tun?

Nele Pollatschek: Als ich den Offenen Brief gesehen habe, habe ich mit den Initiatoren Kontakt aufgenommen, weil ich wollte, dass der nicht veröffentlicht wird. Ich wollte sagen: "Leute, ich weiß, Ihr denkt, Ihr macht hier was Richtiges. Das ist rasende Scheiße, was Ihr hier macht. Lasst es sein. Ich wollte, dass dieser Brief nicht veröffentlicht wird. Ich dachte, nach jedem einzelnen Meinungsbeitrag: "Shut up, shut up, shut up. Stop doing this." Und dann kam dieser offene Brief. Wenn Juden, die das ernst nehmen, sagen: Es ist nicht richtig, dass jemand eine dezidiert jüdische Diskursperspektive einnimmt, also sozusagen immer das Judentum vor sich herträgt, den wir nicht für einen Juden halten, dann sage ich: Hm, Perspektive kann ich verstehen und halte meine Klappe. Als Deutscher zu sagen: Nein, die Juden irren, wenn sie sagen, er ist ..., das ist nicht okay. Das kannst Du als nichtjüdischer Deutscher einfach nicht bringen. Dass nichtjüdische Deutsche auf die Idee kommen, sie hätten ein Recht, da eine Meinung zu haben – fuck off.

Daniel Donskoy: Nele sprach mir aus der Seele. Eigentlich hätte es diese Debatte um Max gar nicht geben sollen. Ich hasse Debatten und ich hasste Gespräche im Eingangsbereich einer Sauna. Ich verabschiedete mich, begab mich in die Umkleide und dann in das römische Dampfbad. Endlich mal an nichts denken. Vor allem nicht an deutsche Debatten. Entspannt verließ ich nach einigen Stunden das Harām. Ich brauchte ein Fortbewegungsmittel. Ehhh, wie war ich überhaupt hergekommen? Ich öffnete eine App auf meinem Handy. Horse2Go und scrollte durch die verschiedenen Pferdestärken: Araber, Schimmel, Vollblüter, ich wählte einen schwarzen Mustang.

In der Dunkelheit vor mir leuchtete ein Licht auf. Ich ritt durch die verlassenen nächtlichen Straßen von Berlin-Mitte. War das noch meine Stadt? Eine City, in der Identitäten geprägt werden von Zuschreibungen, die Medienfuzzis in ihren Elfenbeintürmen verbrechen? Wer bestimmt hier, wer oder was man noch sein darf? Ich galoppierte schneller. Mein Pferd wieherte auf! Ich zog hastig an den Zügeln. Fast hätte ich ihn umgeritten. Wo kam er auf einmal her? Fuck. Ehhh, ich hasse Fußgänger. Im fahlen Licht der Laternen erblickte ich tief erschrockene Augen – es waren die Augen von niemand geringerem als Schuster – Dr. Jacques Schuster, Chef-Kommentator und Ressortleiter in Sachen Politik bei der Welt und der Welt am Sonntag. Auch er schien mich zu erkennen. Hastig stieg ich vom Gaul, um mich erstmal zu entschuldigen. Sorry, Jacques. Ich wollte Dich nicht erschrecken. Ehh… Sie. Kann ich es irgendwie wieder gut machen? Hmm, er antwortete nicht. Offenbar stand er unter Schock. Wie sollte ich reagieren? Ich erklärte, dass ich gerade in Gedanken war, weil ich meinen alten Schulfreund Max Czollek suchte.

Dr. Jacques Schuster: Also Sie sind Jude mit anderen Worten?

Daniel Donskoy: Ich verstand nicht, wieso er mich das fragte? Aber wenn ich ihn damit zum Reden bringen konnte: Klar. Ja, ein stubenreiner, beschnittener Jude, meinte ich. Schuster lächelte. Ich schaute mich um. Wir standen mitten auf der Axel Springer Straße. Ich sah ihm an, dass er mit mir sprechen wollte. Er war auf dem Weg ins Axel Springer Haus – und lud mich ein, auf ein Getränk. Das überraschte mich, aber hey, wieso nicht. Einige Minuten später saß ich mit ihm im Journalistenclub, in einer der oberen Etagen. Panoramafenster und Ledersessel. Unter uns die Stadt. Zwischen Sigmar Gabriel am Shrimps-Buffet und einem Joschka Fischer, der billige Zigarren rauchte, tanzte hier also Angela Merkel mit dem Julian Polonaise. So stellte ich mir das zumindest vor. Heute saß ich mit Schuster jedoch allein in einer stillen Ecke und mit Whisky.

Dr. Jacques Schuster: Ich finde, man kann ja alles an einem Club kritisieren, aber man muss halt wenigstens Clubmitglied sein. Und diese Haltung zu sagen ja, ich bin Jude, weil ich selber mich dafür halte, Punkt, ist mir einfach zu simpel. Ich finde auch nicht übrigens, dass Max Czollek gelogen hat. Der hat geflunkert und auch aus verständlichen und menschlich durchaus angenehmem Grund. Der hat seine Identität so gesehen und da spricht ja auch einiges dafür und hat dann aber im Grunde dieses Judensein gebraucht, oder, ich glaube, dass es so ist, um bekannt zu werden und das werfe ich ihm vor. Diese Art fand ich vermessen, weil ich kann nicht sagen, oder ich kann nicht öffentlich auftreten als Katholik, wenn ich nicht mal getauft bin. Und wenn ich vielleicht mal eine Großcousine hatte, die katholisch war. Ich finde, man muss in den Club schon gehören, um ihn zu kritisieren. Und für mich sind die Kategorien, entweder jüdische Mutter oder übergetreten – und als solches ja dann auch in Israel anerkannt und von den Gemeinden in der Welt anerkannt – ist für mich schon wichtig. Und ich finde es blasiert und überheblich zu sagen, interessiert mich gar nicht, ich fühl mich halt so und alle Welt soll es eben genau so sehen.

Daniel Donskoy: Häh! Ich verstand das nicht. Also muss man Teil eines Clubs sein, muss man erstmal seine fehlende Vorhaut zeigen oder seinen Davidstern, um mitreden zu dürfen? Das erinnerte mich an Nele, die ja meinte, das nicht-jüdische Menschen ihre Fresse halten sollen.

Dr. Jacques Schuster: Na ja, das ist ja schon das Kranke an der ganzen Geschichte, um das mal klar zu sagen. Denn wieso werden immer Juden angesprochen, diese Themen zu covern? Ich sage es jetzt nicht gerne, weil ich finde, in einer Debatte wie bei der Czollek-Debatte muss man sich nicht outen. Ich möchte durch meine Argumente wirken oder von mir aus dafür kritisiert werden. Aber ich möchte nicht wegen meiner Identität angesprochen werden.

Daniel Donskoy: Okay, aber wenn die Argumente zählen, wieso ist es dann so wichtig, dass Max Jude ist? Wieso beteiligt sich Schuster dann überhaupt an so einer Identitätsdebatte?

Dr. Jacques Schuster: Wir werden nie endgültige, zufriedenstellende Antworten bekommen, weil die deutsch-jüdische Geschichte ist halt eine zutiefst schwieriger, um es gelinde auszudrücken. Er hat jüdische Wurzeln. Und wenn er meint, die sind ihm für sein Leben und für sein öffentliches Auftreten wichtig, dann muss er halt eben konvertieren. Das ist ja gar nicht so schwierig übrigens, außer die Beschneidung.

Daniel Donskoy: Ich wollte Jacques Schuster fragen, ob nur ein beschnittener Jude ein echter Jude ist, aber ich ließ es bleiben. Ich war nicht seiner Meinung. Aber das war auch okay. Ob Max Jude ist oder nicht, lässt sich in der Welt, in der ich leben will, nicht klären. Ob er als Publizist eine jüdische Perspektive hat – wer kann das zu 100 Prozent bestätigen. Wären seine Texte rein religiös, könnte ich die Aufregung möglicherweise verstehen. Ich kippte meinen Whisky runter und verließ das Axel Springer Gebäude. Mein Pferd war weit und breit nicht mehr zu sehen.

Daniel Donskoy: Uff, schon wieder Morgen. Schon wieder brummte mein Schädel. Der Schmerz fühlte sich an wie ein intellektueller Kater. Seit Tagen redete ich mit aller Welt über Max, aber nicht mit ihm – frustrierend. Ich hasse Frustration. Von Nemi auch nichts Neues. Offenbar hatte sie alles zu diesem Thema gesagt, was sie sagen wollte. Valerie W. hatte sich auch nicht mehr gemeldet. Mhmhm, der Fall war für mich abgeschlossen. El-Hassan war nicht verschwunden, sie musste gehen – und sie wollte anscheinend auch nicht mehr zurück auf die Bühne der Öffentlichkeit. Von Max gab es allerding keinen Text mit dem Titel "I am jewish, deal with it". Ich musste mit Max sprechen, um diesem Fall endlich ein Ende zu setzen.

Mein Handy klingelt – ich sehe es sofort an der Nummer: Es ist Max. Phuuh – er lebt! Er wirkt normal – als wäre nichts gewesen, sagt nicht viel. Nur, dass ich ihn heute im Maxim Gorki Theater sehen könne. Ich bin zu perplex, um zu antworten. Er legt auf. Das Maxim Gorki Theater – wo die menschlichen Abgründe bunt geschminkt ins Scheinwerferlicht gezerrt werden, ehh ich hasse Theater. Aber auch ein Ort, an dem jeder selbst entscheiden kann, welche Maske er tragen möchte. Das Gorki – nicht weit entfernt von mir. Ich breche sofort auf, gehe zu Fuß.

Als ich dort ankomme und den tempelähnlichen, kolossalen Rechteckbau betrete, wähne ich mich in einem griechischen Drama. Im Saal sehe ich eine Gruppe von Schauspielern auf der Bühne. Eine Probe? Ich schaue mich um… und tatsächlich. Da sitzt er in den Rängen, anscheinend bei der Arbeit. Ich gehe zu ihm. Er scheint sich über meine Anwesenheit zu freuen. What the fuck! Wo war er nur gewesen? Was war passiert? Hatte er einfach nur geprobt? Waren alle meine Sorgen unbegründet? Bin ich doch nicht der Midas des Todes? Bei all der Erleichterung und Wiedersehensfreude musste ich verstehen: What happened? Who framed the Jew?

Max Czollek: Mir war klar, dass dieser Text irgendwann kommen musste. Ich hatte den Autor schon anderthalb Jahre früher etwas ganz Ähnliches bei einer Konferenz sagen hören. Ich wusste nicht, dass es sich auf mich alleine konzentrieren würde, aber dass eine neue junge jüdische Perspektive auch dadurch aus dem Weg geboxt werden sollte, dass man sagt: Das sind alles gar keine echten Juden. Das war ein bisschen absehbar, wenn man die Situation innerhalb der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland kennt. Es ist intellektuell nicht ganz einfach zu verstehen, was da passiert ist, weil es glaube ich sehr viele verschiedene Interessen gibt, die da reingespielt haben.

Von der nichtjüdischen deutschen Seite ist die Interessenlage glaube ich und die Erwartung eine andere als von einer jüdischen Perspektive aus. Vielleicht lässt sich grundlegend erst mal festhalten, dass nicht-jüdische Medien oder nicht x Medien sich ihre Minderheitenposition kuratieren. Also es reicht nicht zu sagen: na hier sind ja nur Muslime zu Wort gekommen in unserer Zeitung. Wenn die Leute, die zu Wort gekommen sind, zum Beispiel alle sogenannte Islamkritiker sind, die eine ganz bestimmte Perspektive formulieren, dann ist es eben nicht Abbildung der realen Meinungsvielfalt, sondern die Kuration einer ganz bestimmten Meinung.

Und ähnlich war es, glaube ich, auch in diesem Fall, wo vier von fünf Beiträgen in der ersten Runde dieser Debatte, wenn man so will, Ausdruck einer konservativen religiösen Position war. Und da muss man einfach sagen: Naja, über die Hälfte der Juden und Jüdinnen in Deutschland sind nicht Teil einer jüdischen Gemeinde. Und damit ist dieser halachische Anspruch schon Ausdruck einer Minderheitenposition. Es gibt auch in der Gegenwart viele jüdische Stimmen, die nicht halachisch koscher sind. Und wenn wir uns die Vergangenheit angucken, dann sehen wir auf einer ganz anderen Ebene Juden und Jüdinnen, die sind irgendwann zum Christentum konvertiert. Bei den haben wir auch kein Problem, die als jüdische Stimmen anzusehen. Also Jüdischkeit ist real eine Sache, die wir eigentlich komplex diskutieren und thematisieren, die was mit Sozialisation, mit Geschichte zu tun hat. Und in dieser Debatte taten alle so, als wäre das einzige, was gilt, die Religionsgesetze.

Daniel Donskoy: Ehhh… Religionsgesetz - ich hasse es. Max wirkt sehr nachdenklich, die Sache scheint nicht spurlos an ihm vorbeigegangen zu sein. 

Max Czollek: Ich glaube, ich bin noch mal sehr tief in meine eigene Geschichte hinein gegangen und habe noch mal diese ganzen Verletzungs- und Delegitimierungserfahrungen, die auch mein Vater schon gemacht hat, rekapituliert und noch mal überlegt: Was bedeutet eigentlich dieser Ausschluss? Auf welche Weise überträgt er sich über die Generationen und was macht man mit dieser Erfahrung? Und andererseits: Wie werde ich eigentlich meinen Toten gerecht? Also sozusagen in Bezug auf mich gilt ja tatsächlich, dass man von einer dritten Generation sprechen kann. Und ich glaube, das waren Dinge, die für mich einfach noch mal hochgekommen sind. Auch als eine Einsamkeit, als eine als auch als eine krasse Wut, muss ich sagen. Und die größte Herausforderung menschlich bei so einer Erfahrung ist, die Verachtung der anderen nicht zur eigenen Verachtung werden zu lassen. Das glaube ich, ist das, woran ich am allermeisten gearbeitet habe, weil ich, weil ich dadurch eine Stärke und einen Rücken hatte, der es mir ermöglicht hat, weiter mit einer mit einer Ironie und mit einer Distanz und mit einer mit einem intellektuellen Neugier und Interesse auf diese Dinge zu gucken und zu fragen: hm, das ist ja doch eigenartig und kurios, was hier gerade passiert.

Daniel Donskoy: Mhmmm. Max ist also wieder da. Ich lausche ihm noch eine Weile – dann versprechen wir uns, bald mal wieder einen trinken zu gehen. Seine Probe geht weiter. Ich verlasse das Gorki. Draußen scheint die Sonne. Ehhh, ich hasse Sonne! Wie jüdisch Max ist – das kann ich nicht beantworten. Und ich möchte es auch nicht. Der Vorwurf, dass er eine jüdische Identität missbraucht haben soll, um für die jüdische Community zu sprechen, ist unlauter. Er hatte nie versucht, die Stimme einer Community zu sein – zumal "die" jüdische Community überhaupt kein Verein ist, für den IRGENDEIN jüdischer Mensch jemals EIN Sprecher sein könnte.

Wenn überhaupt, dann hatte die nichtjüdische Mehrheitsgesellschaft Max zum Sprecher auserkoren und dabei so getan, als seien alle jüdischen Menschen in Deutschland eine homogene Gruppe. Aber ganz ehrlich: Weiß nach dieser ganzen Debatte irgendwer irgendwie besser, wer Jude ist – wer Jude sein darf – und wer nicht? Hmmm. Und Nemi El-Hassan? Ist sie auf einem antisemitischen Marsch mitgelaufen? Ja! Wurde ihr Fall für offenen Rassismus missbraucht? Ja! Wurde ihre Causa benutzt, um konservative oder auch identitätspolitische Bestrebungen voranzutreiben? Ja! Wissen wir nun besser, wie man mit Antisemitismus umgehen soll? Nein! Haben wir als Gesellschaft etwas gelernt? Hm, das wage ich zu bezweifeln. Ich spaziere Richtung Hackescher Markt. Nemi El-Hassan, Max Czollek – beide sind wieder aufgetaucht, aber wirklich gelöst hab ich diese Fälle nicht. Eh, ich hasse es, wenn ich Fälle nicht lösen kann.

Wenn die großen Medien und Institutionen wirklich ein Interesse an einer Lösung gehabt hätten, dann hätte es dafür andere Wege gebraucht, aber ich allein kann hier wohl nichts mehr ausrichten. Medien, Identitäten, ehhhhh. Erstmal ne Kippe – wo ist mein Feuerzeug? Ist das hier noch die richtige Straße? Ampel rot. Fuck, egal. Verdammt, gerade hatte ich’s doch auch noch in der Hand. Was Valerie W. wohl gerade macht? Ob sie noch ab und zu an mich denkt? Sie ist die einzige, die immer noch verschwunden ist. Hmmm, Valerieeee …

GERÄUSCH EINES UNFALLS / FAHRRADQUIETSCHEN

Aua… das tut weh. Ein Bus? Ein LKW? Ein Lastenrad? Ehhh… ich hasse Lastenräder! Ich liege auf dem Asphalt. Nein, ich schwebe über ihm. Über mir Wolken. Alles weiß. Ehehhehe. Und das da vor mir – was ist das? Der Himmel? Oder die zu hell beleuchtete Hölle? Mhmhmhhm, oh nein! Es ist die Hölle, aber sie ist anders als ich sie mir vorgestellt habe. ie sieht aus wie – die WDR-Kantine! Oh Gott! Es ist die WDR-Kantine! Ich hasse Kantinen. Und was ich noch mehr hasse, sind Podcasts! Wooohoho! Was war das denn? Also ich liebe Podcasts – und für Euch gibt’s eine weitere Folge!