Die israelische Regierung und die islamistische Hamas haben sich auf eine viertägige Feuerpause im abgeriegelten Gazastreifen geeinigt. Sie soll nach israelischen Angaben nicht vor Freitagmorgen beginnen. Ursprünglich wurde der Donnerstagmorgen genannt. Zu diesem Deal gehört auch der Austausch von etwa 50 israelischen Geiseln der Hamas gegen rund 150 palästinensische Häftlinge. Wie kommen diese Zahlen zustande? Was sagt das über den Wert von Menschen? Und wie gelingt so ein Deal überhaupt?
Darüber haben wir mit Jürgen Chrobog (FDP) gesprochen. Er war Diplomat und später Staatssekretär im Auswärtigen Amt. Dort leitete er den Krisenstab, der zuständig ist, wenn Deutsche im Ausland entführt werden. Bekannt sind vor allem Chrobogs monatelangen, erfolgreichen Verhandlungen über die Freilassung verschleppter Touristen in Algerien 2003. Zwei Jahre später wurde er im Jemen selbst gekidnappt.
WDR: Rund 50 Geiseln gegen 150 Häftlinge - warum kommt es zu diesem ungleichen Geisel-Deal?
Jürgen Chrobog: Das Ungleichgewicht liegt an der unterschiedlichen Interessenlage beider Seiten. Für die Hamas spielt das Leben ihrer Mitkämpfer nur eine geringe Rolle. Sie haben eine andere Vorstellung von Menschenwürde. Die sagen sich: Unsere Leute in den israelischen Gefängnissen kommen als Märtyrer ohnehin in den Himmel.
Für die Israelis hingegen ist das Leben der Geiseln von großer Bedeutung - vor allem innenpolitisch.
WDR: Werden Frauen, Männern und Kindern bei einem solchen Geisel-Deal unterschiedlich viel Wert beigemessen?
Chrobog: Israelischen Medien zufolge sieht der jetzige Deal vor, dass ausschließlich Minderjährige und Frauen aus der Geiselhaft der Hamas befreit werden. Das spielt emotional eine große Rolle. Babys, Kinder, Mütter - das bewegt die Menschen. Das braucht die israelische Regierung, denn sie steht enorm unter Druck.
Nicht wenige Menschen im Land wünschen sich vor allem, dass zuallererst die Geiseln freikommen. Die Regierung Netanjahu hat aber zugleich auch das Ziel ausgegeben, die Hamas zu zerstören. Die Wege zu diesen Zielen sind zum Teil konträr.
WDR: Welche No-Gos gibt es bei Geisel-Verhandlungen wie diesen?
Chrobog: Anfangs verlangte die Hamas ja die Freilassung sämtlicher etwa 6.000 palästinensischer Gefangener. Das war natürlich ein No-Go. Denn viele von diesen wären jetzt wieder als Terroristen in den Krieg gezogen.
Als ich für die Bundesregierung im Jahr 2003 die Verhandlungen über die deutschen Geiseln in Algerien führte, forderten die Entführer zum Beispiel Waffenlieferungen. Das war für uns damals ein No-Go.
WDR: Wie gingen die jetzigen Verhandlungen denn vonstatten? Saßen da alle an einem Tisch?
Chrobog: Das darf man sich nicht als großen, runden Tisch vorstellen, wie wenn Staaten verhandeln. Die Verhandler trafen sich sicherlich oft persönlich, aber in unterschiedlichen Konstellationen. Telefonieren wäre schon deshalb schwer gewesen, weil im Gazastreifen zwischenzeitlich die ganze Kommunikation zusammengebrochen war. Außerdem wären die Telefone abgehört worden.
Vermittler des Deals waren ja Katar, die USA und Ägypten. Vermutlich gab es viele Gespräche in Katar. Dort konnten die USA über ihre Botschafter kommunizieren. Außerdem halten sich in Katar auch Hamas-Vertreter auf. Die Kataris waren wohl die zentrale Anlaufstelle.
WDR: Wie konnte der jetzige Geisel-Deal dann gelingen?
Chrobog: Katar konnte Druck auf die Hamas ausüben. Denn der Golfstaat gehört zu den wichtigen Geldgebern der Terrororganisation, die den Gazastreifen beherrscht. Nach katarischen Angaben diente das bisherige Geld allerdings lediglich humanitären Zwecken.
Hamas ist bei dem Deal vor allem die viertägige Feuerpause wichtig - die wird sie nutzen, um sich im Krieg gegen Israel wieder besser aufzustellen.
Netanjahu lehnte eine Feuerpause lange ab. Jetzt war nicht nur der innenpolitische Druck auf ihn zu groß geworden, sondern auch der Druck durch US-Präsident Joe Biden.
WDR: Wie könnten weitere Deals zwischen Israel und der Hamas aussehen, um auch die restlichen israelischen Geiseln zu befreien?
Chrobog: Das wird schwer. Denn Israel wird seine Offensive gegen die Hamas im Gazastreifen fortsetzen. Welcher arabische Vermittler wird dann noch bereitstehen, wenn weiterhin so viele Menschen im Gazastreifen sterben? Es gibt ja im Gazastreifen ein Vielfaches an Toten von denen des Terrorangriffs der Hamas auf Israel am 7. Oktober.
Hinzu kommt: Geisel-Verhandlungen mit der Hamas gehören wohl zu den schwierigsten überhaupt. Denn Menschenleben bedeuten diesen Islamisten äußerst wenig.
Das Interview führte Jörn Seidel.
Über dieses Thema berichtete am 22.11.2023 auch die "Aktuelle Stunde" im WDR Fernsehen.