Nach den Erdbeben in der türkischen Millionenmetropole Istanbul steht die Bevölkerung weiter unter Schock. Zahlreiche Menschen verbrachten die Nächte im Freien und schlugen etwa in Parks oder auf anderen Grünflächen Zelte auf. Der Katastrophendienst Afad meldete am Donnerstagmorgen zahlreiche weitere Nachbeben.
Das Beben am Mittwoch war das schwerste in der Region seit über 25 Jahren. Es hat zwar keinen größeren Schaden angerichtet, aber die Angst vor einer möglicherweise bevorstehenden Katastrophe befeuert. Seit Jahren warnen Experten davor.
Warum bebt die Erde in der Türkei so oft?
"Die Türkei gehört zu den tektonisch aktivsten Gebieten der Erde", sagte der Geologie-Professor Naci Görür von der Technischen Universität Istanbul bereits im Juni 2024 in einem Planet-Wissen-Interview. "Das ist der Grund, warum es in unserem Land so viele Erdbeben gibt."
Ursache sind also die natürlichen Bewegungen der Erdkruste-Platten in der Region. "Die Türkei liegt auf der anatolischen Platte. Im Norden liegt die eurasische Platte. Vom Süden drückt die arabische Platte und schiebt die anatolische Platte nach Westen."
Diese aktiven Plattengrenzen nenne man auch Verwerfung, so Professor Görür. "Die Verwerfung im Norden leitet den größten Teil ihrer Energie von Ost nach West ab und verursachte deshalb im Laufe des 20. Jahrhunderts viele Erdbeben der Stärke 7, die nach Westen nach Istanbul wanderten." Das Marmara-Meer vor Istanbul werde deshalb das Ziel des nächsten großen Erdbebens sein.
Wie wahrscheinlich ist ein großes Beben in Istanbul?
"Die Wahrscheinlichkeit für ein größeres Beben in unmittelbarer Nähe zu Istanbul ist seit Jahrzehnten sehr hoch", sagt Dr. Marco Pilz vom GFZ Helmholtz-Zentrum für Geoforschung in Potsdam auf WDR-Anfrage. Der Wissenschaftler ist in der Sektion "Erdbebengefährdung und dynamische Risiken" tätig.
Im Jahr 2004 habe laut einer Studie die Wahrscheinlichkeit für ein Beben im Marmarameer mit einer Magnitude von 7 oder höher innerhalb eines Zeitraums von 30 Jahren bei 35 bis 70 Prozent gelegen. Neuere Studien kommen laut Pilz zu ähnlichen Ergebnissen.
Dass solch ein Beben kommen dürfte, das ist für die Experten also recht wahrscheinlich. Wann genau es so weit sein könnte, wissen die Experten aber nicht. "Das kann in wenigen Tagen sein, aber auch erst in einigen Jahren oder Jahrzehnten passieren", sagt Marco Pilz.
Wie kann sich die Situation jetzt entwickeln?
"Zum jetzigen Zeitpunkt gibt es zwei Szenarien", heißt es in einer Mitteilung des Helmholtz-Zentrums für Geoforschung vom Mittwoch. Entweder sei die unmittelbare Region nun vorerst entspannt und die Erdbebentätigkeit klinge langsam ab. "Oder die durch das Beben erzeugten Spannungsumlagerungen erhöhen die Wahrscheinlichkeit für ein größeres Erdbeben in der Region."
Ein solches Erdbeben könne im schlimmsten Fall eine Stärke von bis zu 7,4 auf der Richterskala haben. Zum Vergleich: Am Mittwoch hatte das schwerste Beben die Stärke von 6,2. Auch wenn die Differenz zwischen den beiden Werten auf den ersten Blick als nicht groß erscheint: Ab Stärke 7 ist mit Toten zu rechnen.
Welche Auswirkungen hätte ein Beben der Stärke 7,4?
"Das würde aufgrund der schlechten Bausubstanz von Istanbul und der Nähe zur Stadt vermutlich Zehntausende Todesopfer fordern", so die Einschätzung von ARD-Korrespondentin Katharina Willinger in Istanbul. "Das ist die große Sorge der Menschen hier. Sind sie sicher in ihren Gebäuden? Wo können sie hingehen, wenn es so weit ist?"
Auch das GFZ Helmholtz-Zentrum für Geoforschung geht davon aus, dass ein Beben mit einer Stärke von bis zu 7,4 große Zerstörung anrichten könnte. Der japanische Erdbebenexperte Yoshinori Moriwaki, der in Istanbul lebt, sagte dem TV-Sender Haber Türk, es sei Vorsicht geboten. 50 Prozent der Gebäude der Stadt seien bei einem sehr starken Erdbeben gefährdet.
Wie stabil ist Istanbul gebaut?
"Istanbul ist eine Küstenstadt", sagte ARD-Korrespondentin Willinger. Viele Stadtteile stünden auf relativ sandigem Grund. Diese Flächen seien teilweise erst im Nachhinein aufgeschüttet und zu Bauland umgewandelt worden. "Das heißt, die sind gar nicht geeignet."
In vielen Fällen komme außerdem eine schlechte Bausubstanz aus den 1960er- bis 1980er-Jahre hinzu. Wer es sich leisten könne, ziehe in ein neueres Gebäude in einem Stadtteil, dessen Erdstruktur aus steinigem Grund bestehe. Der gelte als sicherer als sandiger Grund.
Es gab 1999 in einer Nachbarprovinz von Istanbul bereits ein großes Erdbeben, bei dem rund 20.000 Menschen ums Leben kamen, so Willinger. Dieses Beben sei damals auch in Istanbul zu spüren gewesen. In einem Stadtteil, der auf sandigem Grund stehe, seien rund 1.000 Menschen umgekommen.
Was unternimmt die Stadt Istanbul?
Nach Angaben von Willinger versucht die Stadtverwaltung des nun inhaftierten Istanbuler Oberbürgermeister Ekrem İmamoğlu vor allem seit dem großen Erdbeben 2023 im Südosten der Türkei nachzurüsten. "Es gab viele Erdbeben-Tests, Gebäude wurden abgerissen, teilweise Stahlträger eingesetzt."
Viele Gebäude seien aber weiterhin nicht erdbebensicher. "Laut dem türkischen Bauminister betrifft das immer noch 1,5 Millionen Wohneinheiten, die als nicht sicher gelten." In der Stadt leben schätzungsweise 18 Millionen Menschen.
Was können die Menschen in Häusern bei einem Beben tun?
Wer das Gebäude nicht zeitnah verlassen kann, dem wird geraten, Zuflucht zu suchen. "Beispielsweise unter einem sehr stabilen Tisch, der vielleicht auch Metallbeine hat", sagte ARD-Korrespondentin Willinger. "Oder neben einem Bett oder neben einer Couch."
Denn eine herabstürzende Decke könne zusammen mit dem stabilen Gegenstand einen dreieckigen Schutzraum bilden, in dem ein Mensch überleben könne. Das funktioniere allerdings nur, wenn Gebäude nicht wie Kartenhäuser zusammenfallen würden.
Unsere Quellen:
- Statement von Dr. Marco Pilz vom Helmholtz-Zentrum (GFZ) vom 24.04.2025 gegenüber dem WDR
- WDR-Interview mit Professor Marco Bohnhoff vom Helmholtz-Zentrum (GFZ) am 24.04.2025
- Mitteilung des Helmholtz-Zentrums für Geoforschung (GFZ) vom 23.03.2025
- Tagesschau24-Interview mit ARD-Korrespondentin Katharina Willinger vom 23.04.2025
- Material der Nachrichtenagentur dpa
- Planet-Wissen-Interview mit Professor Naci Görür von der Technischen Universität Istanbul von 2024
Über dieses Thema berichten wir im WDR am 24.04.2025 auch im Fernsehen: Aktuelle Stunde, ab 18:45 Uhr.