ARD Story Jugendämter in Not - anonyme Stimmen 01:51 Min. Verfügbar bis 08.01.2026

WDR-Recherche zu Jugendämtern: So überlastet ist der Kinderschutz in NRW

Stand: 08.01.2025, 06:00 Uhr

Der Kinderschutz in NRW ist durch Mangel an Personal, Unterkünften und Finanzierung von Jugendämtern gefährdet, zeigt eine Recherche des WDR. Manchmal kommt es deshalb sogar zu einer Gefährdung von Kindern.

Von Berit Kalus (Reportage) und Nándor Hulverscheidt (Daten)

Es ist ein großes Backsteingebäude in einer der ärmsten Kommunen Deutschlands: Das Jugendamt in Gelsenkirchen. Von hier aus macht sich Sozialarbeiterin Sophie Schöttler (28) gerade auf den Weg zu einem Hausbesuch. Sophie Schöttlers täglicher Auftrag: Kindern das Leben zu retten.

Sie arbeitet im Jugendamt Gelsenkirchen in der Abteilung Allgemeiner Sozialer Dienst, kurz ASD. Die Fälle, die sie bearbeitet, sind oft Kinderschutzfälle: Die Mitarbeiter im ASD müssen herausfinden, ob Kinder zuhause in Gefahr sind - und sie im Notfall schützen.

"Bis ein Kinderknochen bricht, muss viel passieren"

Darum geht es auch heute: Ein acht Monate alter Säugling wurde vor kurzem von seiner Mutter mit einem gebrochenen Schlüsselbein ins Krankenhaus eingeliefert. Die Mutter sagt, sie habe keine Ahnung, woher die Verletzung komme; sie beteuert, es sei überhaupt nichts passiert.

Sozialarbeiterin Sophie Schöttler betreut im Jugendamt Gelsenkirchen zeitweise bis zu 65 Familien auf einmal. | Bildquelle: WDR

So ein Fall ist für Sophie Schöttler sehr drängend: „Kinderknochen sind noch nicht fest. Und bis ein Kinderknochen bricht, da muss viel passieren.” Ohne eine plausible Erklärung für die Verletzung habe dieser Fall höchste Priorität.

Sophie Schöttler macht einen Hausbesuch bei der Familie, um sich ein Bild von der Situation vor Ort zu machen. Dort muss sie herausfinden, ob hinter der Verletzung des Babys eine Kindeswohlgefährdung stecken könnte - ob das Kind in seinem Zuhause sicher ist. Sozialarbeiter brauchen ausreichend Zeit und Ressourcen, damit sie so wichtige Entscheidungen treffen können. Aber was, wenn alles immer zu knapp ist?

"Ich empfinde gerade die Situation aktuell als sehr belastend, sehr anstrengend." Sophie Schöttler, Sozialarbeiterin

Das Problem: Wie in vielen anderen Jugendämtern auch, herrscht im Jugendamt Gelsenkirchen oft Zeitdruck. Auch wenn es dem Jugendamt im Vergleich zu anderen noch relativ gut geht, sind erste Anzeichen einer Krise auch hier zu spüren: Es gibt zu viele Fälle für zu wenige Mitarbeiter.

Bei Sozialarbeiterin Sophie Schöttler türmen sich die Fälle auf dem Schreibtisch. Manchmal muss sie sich um insgesamt 65 Familien kümmern - teilweise mit mehreren Kindern. Das sind etwa doppelt so viele Fälle, wie sie laut Gewerkschaft haben sollte.

Überlastung ist eher die Regel als eine Ausnahme

Und da ist sie nicht die einzige: Überlastung von Mitarbeiterinnen im Allgemeinen Sozialen Dienst (ASD) ist in vielen Ämtern nicht die Ausnahme, sondern die Regel. “Ich habe auch manchmal echt Angst davor gehabt, dass irgendein Kind umkommen könnte in so einer Situation, so wie ich arbeite.”, sagt Verena Bieler, eine ehemalige ASD-Mitarbeiterin aus einem anderen Jugendamt und Mitglied des Deutschen Berufsverbands für Sozialarbeiter.

Sie war zu Höchstzeiten für 137 Fälle zuständig. Eine Jugendamtsleiterin ergänzt: “Es kommt vor, dass man weinende Mitarbeiter im Büro sitzen hat, weil sie sagen ‘Ich kann das alles nicht mehr’.” Die Leiterin möchte anonym bleiben - aus Angst vor beruflichen Konsequenzen.

Mehr als die Hälfte der fast 200 NRW-Jugendämter haben an einer Befragung des WDR teilgenommen. Rund die Hälfte davon gab an, dass es im ASD häufig oder sogar dauerhaft zu Überlastungen kommt. Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter müssen dann immer wieder entscheiden, welche Aufgaben noch warten können, um sich um dringende Fälle kümmern zu können.

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Kathinka Beckmann, Professorin für Kinderschutz an der Hochschule Koblenz | Bildquelle: WDR

Diese strukturelle Überlastung könne schlimme Konsequenzen haben, kritisiert Kathinka Beckmann, Kinderschutzexpertin und Professorin für Kinderschutz an der Hochschule Koblenz: “Statt dass ich 20 Familien eng betreue, muss ich jetzt 40, 50, 60 Familien betreuen."

"Und wenn ein Kind verstirbt, dann müssen Sie damit leben, dass Sie vielleicht nicht gut genug hingeguckt haben und dann in dem Wissen, dass Sie es vielleicht gar nicht tun konnten, weil Sie keine Zeit für Hausbesuche hatten", sagt Beckmann.

Hausbesuche sind zeitaufwändig - aber wichtig

Wie wichtig so ein Hausbesuch ist, zeigt sich bei Sophie Schöttler aus dem Jugendamt Gelsenkirchen. Sie steht inzwischen bei der Mutter des achtmonatigen Babys mit dem gebrochenen Schlüsselbein im Wohnzimmer. Eine WDR-Reporterin ist mit Erlaubnis der Mutter dabei.

Das Wohnzimmer ist ein kleiner, heller Raum. An der Tür eine eingebrochene Stelle, als ob mal jemand gegen die Tür geschlagen hätte. Der Boden des Raumes ist mit Spielzeug übersät. Die Mutter entschuldigt sich für die Unordnung, sie wirkt fahrig und ein bisschen nervös.

Sozialarbeiterin Sophie Schöttler beim Hausbesuch in Gelsenkirchen. | Bildquelle: WDR

Sophie Schöttler sitzt an einem kleinen Tisch, die Mutter ihr gegenüber, auf einem Sofa; sie füttert ihr Baby mit einer Flasche. Frau Schöttler fragt, ob die Mutter nicht doch irgendeine Ahnung haben könnte, wie die Verletzung ihres Sohnes zustande gekommen ist. Die Mutter scheint zu schwimmen. “Also ich weiß das überhaupt nicht.” Vielleicht sei es beim Schlafen irgendwie passiert.

Die junge Sozialarbeiterin guckt sich die Wohnung an und redet für eine längere Zeit mit der Mutter, befragt sie nach ihrer Wohnsituation, ihrem Alltag, ihren Lebensumständen; ob sie Unterstützung gebrauchen könnte. Die Mutter gibt auf viele Fragen lange, verworrene Antworten, behandelt ihr Baby aber augenscheinlich liebevoll.

Am Ende des langen Gesprächs betont die Sozialarbeiterin: “Machen Sie sich noch mal Gedanken darüber, wie das passiert sein könnte.” Sie macht eine Pause, dann sagt sie sehr klar: “Ich möchte Ihnen nichts unterstellen, aber es ist ganz wichtig, dass Sie die körperliche Unversehrtheit Ihres Sohnes sicherstellen. Das ist Ihre Aufgabe.”

Kurz bevor die Sozialarbeiterin gehen möchte, klingelt es - es stehen der 3-jährige Sohn und der Vater der Kinder vor der Tür. Der Sohn beginnt zu weinen, der Vater wird laut. Sophie Schöttler guckt sich das Szenario kurz an und verabschiedet sich dann.

Große Verantwortung bei Jugendamtsmitarbeitern

Bald muss Sophie Schöttler mit Hilfe ihrer Eindrücke vom Hausbesuch bestimmen, ob das Wohl des Babys in seiner Familie gefährdet ist. Es ist eine riesige Verantwortung, die auf ihren Schultern lastet. Und eine, die ihr durch die strukturellen Probleme, unter denen die Jugendämter in Deutschland leiden, zunehmend erschwert wird.

Ein großes Problem dabei: Der Personalmangel im Allgemeinen Sozialen Dienst. Im Frühling 2024 war in Gelsenkirchen jede fünfte Stelle nicht besetzt. Ein bundesweites Problem, bestätigt Kinderschutzexpertin Kathinka Beckmann. “Es hat sich ja herumgesprochen, dass diese großartige Arbeit im Moment so wahnsinnig anstrengend ist.”

Wir haben Stellen, die einfach nicht mehr besetzt werden können. Kathinka Beckmann, Kinderschutzexpertin

Der Personalmangel im ASD ist in NRW etwas geringer als im Bundesdurchschnitt. Aber auch bei uns hat nur ein Drittel der Jugendämter, die bei der WDR-Umfrage geantwortet haben, genug Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter für diesen Fachbereich.

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Für die Personalplanung der Amtsleitungen ist das herausfordernd. Mehr als die Hälfte von ihnen gab an, Stellen im ASD häufig oder dauerhaft mit noch nicht gut geeigneten Personen besetzen zu müssen. Gleichzeitig ist die Zeit für Einarbeitungen oft knapp. Die Kinderschutzexpertin Kathinka Beckmann findet das problematisch, bei einem Beruf, bei dem Erfahrung und eine sehr gute Menschenkenntnis so wichtig seien.

Sparmaßnahmen gefährden hilfsbedürftige Familien

Neben Problemen mit Personalmangel und Überlastung ist auch die Finanzierung für Jugendämter nicht immer einfach: Jugendämter sind meist für eine größere Gemeinde oder einen Kreis zuständig. Die lokalen Kommunen müssen die Jugendämter auch hauptsächlich finanzieren - egal wie groß der Bedarf an Hilfen oder wie schlecht die Haushaltslage der Kommune ist.

Jede fünfte Amtsleitung aus NRW gab an, ihr Geldgeber hätte sie schon mal zum Sparen bei Hilfen zur Erziehung oder im Kinderschutz aufgefordert. Und das kann für hilfsbedürftige Familien zu einem großen Problem werden.

Eine Jugendamtsleiterin, die anonym bleiben möchte, erklärt: “An einer Hilfe zur Erziehungsleistung zu sparen, bedeutet im Endeffekt für die Familien, dass sie im Zweifel gar keine Unterstützung haben, dass sie weiterhin in eine Spirale absinken, wo es der Familie und den Kindern immer, immer schlechter geht.”

Dabei ist eine adäquate Unterstützung für hilfsbedürftige Familien oft essentiell: So auch im Fall des achtmonatigen Babys mit dem gebrochenen Schlüsselbein. Eine Woche nach ihrem Hausbesuch muss Sophie Schöttler im Jugendamt Gelsenkirchen einschätzen, ob hier eine Kindeswohlgefährdung vorliegt. Eine Stunde diskutiert sie dafür mit ihren Kolleginnen: Über die Situation bei der Familie Zuhause, die zugewandte Mutter, die sich in Ausreden zu verlieren scheint, die fehlende Begründung, wie es zu dem Knochenbruch gekommen sein könnte.

Schwierige Entscheidungen im Jugendamt

Sophie Schöttler und ihre Vorgesetzte besprechen die mögliche Kindeswohlgefährdung. | Bildquelle: WDR

Am Ende sagt Sophie Schöttler: “Wenn die Mama mir jetzt sagen würde ‘Frau Schöttler, das Kind ist mir runtergefallen’, da würde ich sagen ‘Alles klar, dann kriegen Sie Unterstützung, ist schön und gut’. Wenn mir aber eine Frau gegenübersitzt, die mir überhaupt nicht sagt, was passiert ist und sagt ‘Ich weiß es nicht’ - es muss ja was passiert sein!”

Ihre Kolleginnen nicken. “Man muss ja vielleicht auch davon ausgehen, dass es schlimmer sein könnte, als er ist ‘nur aus dem Bett gefallen’”, ergänzt eine von ihnen. Sie sind sich einig und stellen in dem Fall tatsächlich eine Kindeswohlgefährdung fest.

Aber die ist noch nicht akut genug, um den Säugling in Obhut zu nehmen - also aus seiner Familie herauszuholen. Sie werden die Mutter nun durch eine Alltagshilfe unterstützen und den Fall weiterhin kritisch beobachten.

Es fehlen Plätze in Heimen und Pflegefamilien

Nur wenn Sozialarbeiter keine andere Lösung mehr finden, nehmen sie ein Kind in Obhut. Doch dann gehen die Probleme oft erst richtig los: Denn es fehlen überall kurzfristige und dauerhafte Plätze in Heimen und Pflegefamilien, in denen sie die Kinder unterbringen können. In NRW sehen über 90 Prozent der Jugendamtsleitungen im Zeitaufwand für die Platzsuche ein großes Problem.

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Sophie Schöttler muss teilweise bis zu sechs Stunden nach einem Notplatz für ein Kind suchen. Manchmal habe sie Angst, gar keinen Platz zu finden. “Das ist schon kein schönes Gefühl und bringt einen auch wirklich dann ja in Stress und in eine gewisse Verzweiflung einfach.”

Betteln, dass die Kinder nicht im Hotel landen

“Für uns ist es einfach so, dass wir wirklich betteln müssen, dass diese Kinder dann nicht entweder im Hotel landen oder schlimmstenfalls wir die mit nach Hause nehmen müssen“, sagt eine Jugendamtsmitarbeiterin, die anonym bleiben will.

Die ARD Story “Jugendämter in Not: Kinder in Gefahr?” von Berit Kalus und Katharina Wolff zeigt, welche Folgen strukturelle Mängel wie diese sowohl für die Sozialarbeiter in den Jugendämtern, als auch für hilfsbedürftige Kinder und Familien haben können.

Anonyme Befragung zeigt, welche Konsequenzen der Platzmangel für Kinder hat

Wie häufig es zu solchen Extremfällen kommt? Dazu gibt es keine offizielle Statistik und auch Hemmungen in vielen Ämtern, sich dazu zu offen äußern. In der Befragung des WDR konnten die Amtsleitungen anonym ankreuzen, welche Fälle schon bei ihnen vorgekommen sind. 20 Jugendämter aus Nordrhein-Westfalen bestätigten dabei, dass Kinder oder Jugendliche schon mal in Räumen des Jugendamts übernachten mussten.

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Kerstin Kubisch-Piesk, Vorsitzende der Bundesarbeitsgemeinschaft ASD | Bildquelle: WDR

Fast 60% der Jugendämter haben angegeben, dass wegen des Platzmangels Kinder schon mal länger als angebracht in ihren Familien bleiben mussten. Dass das schlimme Konsequenzen haben kann, betont Kerstin Kubisch-Piesk, Vorsitzende der Bundesarbeitsgemeinschaft ASD: “Das heißt gegebenenfalls, dass sie einer erneuten Gefährdung ausgesetzt sind.”

Die Sozialarbeiterinnen tun, was sie können

Die Sozialarbeiterinnen in den Jugendämtern tun oft alles, um trotz der strukturellen Probleme - trotz der Überlastung, des fehlenden Geldes und der fehlenden Plätze - die Kinder zu schützen. So wie Sophie Schöttler in Gelsenkirchen.

Im Fall des achtmonatigen Säuglings mit dem gebrochenen Schlüsselbein hat Schöttler das geschafft: Einige Wochen nach der Gefährdungseinschätzung hat die Mutter des Babys gesagt, dass sie Angst vor ihrem Partner habe. Sophie Schöttler hat sie und ihre beiden Kinder daraufhin in ein Frauenhaus gebracht. Das Jugendamt Gelsenkirchen konnte hier zwei Kinder vor womöglich Schlimmerem bewahren.

Ob Kinder Schutz bekommen, scheint Glückssache zu werden

Doch die Frage ist, wie lange das unter den aktuellen Bedingungen noch möglich ist. Für ein Kind in Deutschland scheint es zunehmend Glückssache zu sein, ob es geschützt werden kann, oder nicht.

Fast die Hälfte der teilnehmenden Jugendamtsleitungen aus Nordrhein-Westfalen gab in der WDR-Umfrage an, nicht das Gefühl zu haben, den Kinderschutz unter den aktuellen Bedingungen stets gut gewährleisten zu können.

In manchen Fällen kommt es wegen des Mangels an Personal, Geld, oder Unterkünften zu einer Gefährdung von Kindern und Jugendlichen. „So wie es gerade läuft, läuft es nicht mehr lange, bevor dieses ganze System zusammenbricht und noch mehr Kinder zu Schaden kommen als ohnehin schon”, sagt eine Jugendamtsmitarbeiterin.

Die WDR-Befragung der Jugendämter fand im Sommer 2024 statt. Angeschrieben wurden die Leitungen von insgesamt 580 deutschen Jugendämtern. Den Teilnehmenden wurde Anonymität zugesichert. Rückmeldungen erhielt der WDR aus allen Bundesländern, in NRW lag die Teilnahmequote bei 60 Prozent.

Weitere Quellen:

  • WDR-Reporterinnen vor Ort
  • Sophie Schöttler, Sozialarbeiterin im Jugendamt Gelsenkirchen
  • Björn Rosigkeit, Leiter des Jugendamts Gelsenkirchen
  • Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter anderer deutscher Jugendämter
  • Prof. Dr. Kathinka Beckmann, Kinderschutzexpertin der Hochschule Koblenz
  • Kerstin Kubisch-Piesk, Vorsitzende der Bundesarbeitsgemeinschaft Allgemeiner Sozialer Dienst

Die ARD Story “Jugendämter in Not: Kinder in Gefahr?” von Berit Kalus und Katharina Wolff ist ab dem 8.1.2025 in der ARD Mediathek und um 22:50 Uhr im Ersten zu sehen.