Oberstaatsanwalt Ulf Willuhn ist so etwas wie das Gesicht der Staatsanwaltschaft Köln, Nordrhein-Westfalens größter Strafverfolgungsbehörde. Oft, wenn es um Fälle von besonderer öffentlicher Bedeutung geht, tritt Willuhn in seiner Funktion als Pressesprecher vor die Kameras.
Auch am 27. Juni 2023 flimmerte Willuhns Gesicht über die Bildschirme der Republik, nachdem eine Razzia im Erzbistum Köln bekannt wurde. Am Morgen hatte Kardinal Rainer Maria Woelki persönlich die Tür geöffnet, als die Ermittler klingelten. Der Verdacht: Der Kölner Kardinal soll unter Eid vor Gericht die Unwahrheit gesagt haben. Das Verfahren gegen den Erzbischof – ein in der deutschen Geschichte einmaliger Vorgang. Woelki bestreitet die Vorwürfe.
Ermittlungen "frühestens" im Juni 2024 abgeschlossen
Doch Willuhn ist im Fall Woelki mehr als nur das Gesicht, er ist auch der Kopf hinter den Ermittlungen. Er leitet das Verfahren. Ging er kurz nach der Razzia noch optimistisch davon aus, den Fall bis "Spätherbst, möglicherweise auch bis zum Winter" abgeschlossen zu haben, spricht er nun frühestens vom Juni 2024 – "und auch das bitte ich nur als Hoffnung, nicht als Gewissheit zu verstehen".
Tatsächlich wurden bei der Razzia laut Staatsanwaltschaft 835 Gigabyte Kommunikationsdaten sichergestellt. Darunter E-Mail-Postfächer aus dem Erzbistum. Aber auch SMS, Sprachnachrichten und Chats des Kardinals. Seit Juni werten nun Kriminalpolizisten die beim Bistum sichergestellten 800.000 E-Mails mit über 500.000 Anhängen aus.
Ein Staatsanwalt allein sichtet Woelkis persönliche Kommunikation
Und die Handydaten des Kardinals? Die sichtet Willuhn eigenen Angaben zufolge allein. "Aufgrund der besonderen Sensibilität und Brisanz ist mir als staatsanwaltschaftlichem Dezernent des Verfahrens die Sichtung der beim Beschuldigten selbst gesicherten Daten und Unterlagen persönlich vorbehalten", schreibt Willuhn auf Anfrage. Der Arbeitsaufwand liege im Bereich dessen, was man sonst in großen Verfahren als sachbearbeitender Dezernent zu leisten habe.
Ein ganz normaler Vorgang also? Der Strafrechtsprofessor Tobias Singelnstein von der Universität Frankfurt bezweifelt das: "Das ist eine sehr ungewöhnliche Praxis, dass die Staatsanwaltschaft hier nicht die Durchsicht der Daten an die Polizei delegiert. Rechtlich kann sie das und in der Praxis tut sie das praktisch immer, um diese Arbeit vom Hals zu bekommen."
"Vor dem Gesetz sind eigentlich alle gleich"
Man müsse sich die Frage stellen, so Singelnstein, warum das in diesem Fall anders gehandhabt wurde. Es könne Gründe geben, die dafür sprächen, beispielsweise die besondere Öffentlichkeitswirksamkeit des Verfahrens. "Auf der anderen Seite muss man sich hier die Frage stellen, ob es eine Rolle spielt, dass wir hier einen ganz besonderen Beschuldigten haben, nämlich Kardinal Woelki, und dass das zu einer unsachlichen Ungleichbehandlung führt. Weil vor dem Gesetz sind eigentlich alle Menschen gleich."
Die Staatsanwaltschaft Köln dagegen hält das Vorgehen für "sachdienlich wie geboten". Die Persönlichkeitsrechte des Kardinals seien zu wahren. Ein Sprecher der Kölner Behörde verteidigte das Vorgehen auf Anfrage mit einem weiteren Grund: "Zudem soll das Risiko von Durchstechereien insbesondere an Medienvertreter auf null reduziert werden, was bisher gelungen ist."
Kriminalbeamter spricht von "einmaligem Vorgang"
Für Oliver Huth, NRW-Landesvorsitzender beim Bund deutscher Kriminalbeamter, klingen Aussagen wie diese wie ein Misstrauensvotum gegenüber der Polizei: "Ich bin seit 24 Jahren Kriminalbeamter. Was da im Woelki-Verfahren geschieht, ist aus meiner Sicht ein einmaliger Vorgang. Das ist eine Sonderbehandlung, die Herr Woelki und die Katholische Kirche hier erfahren."
Natürlich sei die Polizei geübt in brisanten Verfahren und im Umgang mit umfangreichen Datenbeständen, "allein schon, damit das Verfahren zeitnah einen Abschluss findet. Bei der Polizei liegt ja auch die Ermittlungskompetenz. Natürlich sind die Daten auch bei der Polizei sicher." Beamte, die sich daran nicht hielten, machten sich strafbar.
Der WDR hat mit einem halben Dutzend weiterer aktiver und ehemaliger Strafverfolger und Ermittler über das Vorgehen gesprochen. Sie alle bezeichneten den Vorgang als ungewöhnlich und fragwürdig.
Woelki bestreitet die Meineids-Vorwürfe
Konkret geht es bei den Ermittlungen unter anderem um eine Aussage des Kardinals vor dem Landgericht Köln im März 2023. Verhandelt wurde dort eine Klage Woelkis gegen die Berichterstattung der "Bild"-Zeitung. Die hatte behauptet, Woelki habe einen Priester befördert, obwohl er von Missbrauchsvorwürfen gegen den Mann gewusst habe.
Den Prozess gewann Woelki in erster Instanz. Aber eine seiner Aussagen ist nun Gegenstand der staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen. Laut Gerichtsprotokoll, das dem WDR vorliegt, wird Woelki auf Dokumente angesprochen, in denen ein Betroffener H. Missbrauchsvorwürfe gegen einen leitenden Pfarrer schildert. Woelki antwortet laut des Protokolls unter Eid und mit dem Zusatz "so wahr mir Gott helfe": "Bis heute hat mir niemand etwas über die Vorwürfe H.s berichtet."
Dokumente wecken Zweifel an Woelkis Aussagen
Doch zwei Monate nach der Gerichtsverhandlung veröffentlichten WDR und Kölner Stadt-Anzeiger Dokumente, die Zweifel an Woelkis Aussagen nährten. In einem Brief wurden die Missbrauchs-Vorwürfe gegen den umstrittenen Priester bereits 2018 an die zuständige Behörde im Vatikan gemeldet. Unterschrieben war der Brief mit den Worten: "In Christus verbunden" und der Unterschrift von Kardinal Woelki. Doch der habe den Brief lediglich unterschrieben, nicht aber gelesen, bekräftigte das Erzbistum immer wieder.
Außerdem liegt dem WDR das Protokoll einer Sitzung mit Kardinal Woelki aus dem September 2022 vor, ein halbes Jahr vor seiner Aussage vor Gericht. Laut Protokoll diskutierte er mit den teilnehmenden Stadtdechanten, den Regionalchefs des Bistums, über den beschuldigten Priester.
Diese Dokumente, eine Zeugenaussage vor Gericht und das Interview einer ehemaligen Mitarbeiterin des Bistums ließen Zweifel an Woelkis Aussage und an zwei eidesstattlichen Versicherungen aufkommen. Mehrere Anzeigen gegen den Kardinal gingen bei der Staatsanwaltschaft ein, doch die begann ihre Ermittlungen nur zögerlich.
Das Erzbistum Köln erklärte schriftlich auf eine aktuelle WDR-Anfrage, die eidesstattlichen Versicherungen Woelkis seien richtig. Zum Zeitpunkt der Beförderung des leitenden Pfarrers im Jahr 2016 habe Woelki dessen Personalakte nicht gekannt. "Etwas anderes ergibt sich - wie bereits mehrfach bestätigt - auch nicht aus dem Brief an die Glaubenskongregation nach Rom aus dem Jahr 2018 oder der Versammlung der Stadtdechanten im Jahr 2022."
Ein möglicher Zeuge ist inzwischen verstorben
Ob diese Darstellung zutrifft, prüft Oberstaatsanwalt Ulf Willuhn seit Mai 2023. Einer der Anzeigenerstatter gegen den Kardinal sagte dem WDR, dass sich die Langsamkeit der Staatsanwaltschaft nicht gut anfühle. Zwar wünsche er sich gründliche Ermittlungen, aber dass es so lange dauere, sei unverständlich.
Ein möglicher Zeuge, der Wuppertaler Stadtdechant Bruno Kurth, sagte dem WDR, dass er bisher von der Staatsanwaltschaft nicht vernommen wurde. Er wird im Protokoll, das Woelki womöglich belastet, namentlich genannt. Ein weiterer Stadtdechant, der Woelki kritisch gegenüberstand, kann nicht mehr befragt werden. Er ist vor drei Wochen verstorben.
Besonders lange Verfahren können mildere Strafen nach sich ziehen
Die Staatsanwaltschaft Köln erklärte, grundsätzlich keine Auskünfte zu erteilen, welcher Zeuge wann, wo und in welchem Umfang vernommen worden ist oder werden wird: "Um jedoch Zeugen sachdienliche und richtige Vorhalte machen zu können, ist eine zeitlich vorangehende Auswertung vorhandener Beweismittel zielführend."
Strafrechtler Tobias Singelnstein warnt vor möglichen negativen Folgen: "Je länger es dauert, desto schwieriger wird es, am Ende auch aufzuklären. Zeugen können sich schlechter erinnern, die müssen ja in einer Hauptverhandlung nochmal aussagen. Und wenn der Sachverhalt, der abgeurteilt wird, schon lange zurückliegt, kann sich das in einer milderen Strafe niederschlagen."
Auch kirchenpolitisch könnten die langsamen Ermittlungen Folgen haben, sagt der Münsteraner Kirchenrechtler Thomas Schüller dem WDR. Er habe den Eindruck, dass die Staatsanwaltschaft den Kardinal mit Samt-Handschuhen anpacke. „Das bedeutet für ihn, dass er weiter Handlungsfreiheit hat. Er kann regieren, er kann Entscheidungen treffen, die das Bistum lange betreffen werden.“ Schüller befürchtet auch, dass die Hoffnungen vieler, in eine Aufarbeitung durch die Staatsanwaltschaft enttäuscht werden. „Vor allem bedeutet es für die Betroffenen sexualisierter Gewalt und auch für die Kritiker, die Katholikinnen und Katholiken, dass sie mürbe werden."
NRW-Justizministerium lässt sich regelmäßig über Woelki-Ermittlungen berichten
Ulf Willuhn hat indes innerhalb der Staatsanwaltschaft Köln noch zahlreiche weitere Aufgaben. Der erfahrene Oberstaatsanwalt leitet die Abteilung für Staatsschutz, politische- und Pressestrafsachen. Er ist der Anti-Semitismus-Beauftragte der Behörde und macht für seinen Sachbereich auch die Pressearbeit. Von den vielen Aufgaben freigestellt wurde er laut der Behörde für die Woelki-Ermittlung nicht, er habe dies auch nicht beantragt. Ein Sprecher betont trotzdem: "Es gibt keinerlei Grund für die Annahme, Herr Willuhn könne das in Rede stehende Ermittlungsverfahren wegen seiner sonstigen Aufgaben nicht angemessen fördern."
Wie in allen Strafsachen, die Persönlichkeiten des politischen Lebens betreffen, berichtet Willuhn regelmäßig den Stand der Woelki-Ermittlung an das nordrhein-westfälische Justizministerium. Ob und wie man dort auf die Herangehensweise blickt, wollte das Ministerium nicht kommentieren.
Über dieses Thema berichtet das WDR-Fernsehen um 19:30 Uhr in der Sendung Westpol am 18.02.2024.