Was ist die SPD eigentlich noch, Herr Baranowski? | Westpol 00:50 Min. Verfügbar bis 02.03.2027

Was ist die SPD eigentlich noch, Herr Baranowski?

Stand: 02.03.2025, 10:12 Uhr

In Gelsenkirchen wird die SPD von der AfD teils überholt. Ein Interview mit dem Ex-Oberbürgemeister über den Vertrauensverlust in seine Partei.

Wurden die Probleme von Gelsenkirchen zu lange nicht gehört? Frank Baranowski (SPD) war von 2004 bis 2020 Oberbürgermeister in der Ruhrgebietsstadt. Lang galt sie lange als klassische SPD-Hochburg. Bei der Bundestagswahl lief ihr zum Teil aber die AfD den Rang ab. Das Direktmandat ging zwar an Marcus Töns von den Sozialdemokraten, doch die Stadt ist der erste Wahlkreis in NRW, der bei den Zweitstimmen blau ist.

In der ärmsten Stadt Deutschlands setzen viele Wähler nicht mehr auf rot. Insbesondere der Armutszuzug aus Südosteuropa macht das Thema Migration hier nochmal drängender als in anderen Kommunen. Ganz überrascht ist der Ex-OB daher nicht von dem Ergebnis und sieht große Versäumnisse - auch in der eigenen Partei.

Herr Baranowski, lange waren sie Oberbürgermeister von Gelsenkirchen. Wie sehr schmerzt es Sie jetzt dieses Wahlergebnis?

Das Ergebnis wühlt mich schon auf. Das alarmiert mich, weil man sich schon die Frage stellen muss – auch im Vergleich zu den Städten um uns herum – warum gerade Gelsenkirchen? Mit diesem anderen Ergebnis als in den anderen Ruhrgebietsstädten. Und man muss sich das schon sehr genau anschauen. Also es treibt mich schon um.

Hat Sie das denn gewundert?

Dass die AfD hier stark abschneidet, habe ich befürchtet. Aber, dass sie auch bei den Zweitstimmen an der Spitze liegt, das hat mich dann doch schon überrascht, weil auch bei allen Begründungen, die man finden kann, es entschuldigt nicht, dass eine rechtsextreme Partei hier Zweitstimmen-Mehrheit bekommen hat.

Trifft die Schuld daran auch die SPD?

Ach, ich will gar nicht über Schuld reden. Es ist die Frage, sind wir gemeinsam in der Lage – alle, die Verantwortung tragen – Probleme und Herausforderung zu lösen. Da trägt die SPD auch Verantwortung. Wenn ich mich daran erinnere, wie oft ich in Berlin war: Einmal war Frau Merkel Kanzlerin, einmal war Olaf Scholz Kanzler. Und keine der beiden Bundesregierungen oder auch unterschiedliche Innenminister haben es geschafft, zum Beispiel, das Thema Zuwanderung aus Südosteuropa in den Griff zu bekommen. So, dass Gelsenkirchen darunter nicht überproportional leidet.

Vor fünf Jahren schon haben Sie in einem Interviewgesagt, Integrationsprobleme seien ein Tabuthema. Die Leute glauben uns nicht mehr oder glauben nicht mehr an uns. Waren Sie da ihrer Zeit voraus?

Das weiß ich nicht. Aber ich glaube, dass ich schon die Dinge, wie sie sich dargestellt haben und wie sie sich weiterentwickeln, sehr klar gesehen habe und was es auch für diese Stadt heißt. Man muss sich das auch mal in Zahlen klarmachen. Gelsenkirchen hat wie jede andere Stadt eine Quote an Flüchtlinge aufzunehmen. Das sind in Gelsenkirchen 12.500 Menschen. Und viele andere Städte sagen wir sind an der Grenze unserer Integrationskraft.

In Gelsenkirchen kommen aber noch einmal 12.500 Armutszuwanderer aus Südosteuropa dazu. Das heißt 25.000, zusätzliche Menschen. Das sind zehn Prozent der Gesamtbevölkerung. Dass da die Integrationskraft einer Stadt am Ende ist, insbesondere einer armen Stadt, die einen Migrationsanteil von 40 Prozent hat. Ich glaube, dafür muss man kein Prophet sein. Was mich dann immer nur schwer gestört hat, war, wenn man mir in Berlin oder auch in Düsseldorf gesagt hat: Das Problem, dass sie darstellen, das gibt es so gar nicht. Das ist einfach ärgerlich. Und da waren von der SPD und der CDU geführte Bundesregierungen mit dabei.

Warum wollte in Berlin oder Düsseldorf das Problem keiner hören? Was hätte früher getan werden müssen?

Da gibt es unterschiedliche Ansätze: Das ist die Frage, ob Zuwanderer aus Südosteuropa nicht auf die Quote der zugewiesenen Flüchtlinge angerechnet werden müssen. Es gibt eine Quote, die jede Stadt erfüllen muss, die erfüllt Gelsenkirchen. Aber anstatt dass diese Quote am Ende reduziert wird, kommen die Zuwanderer aus Südosteuropa noch obendrauf. Das macht aber in den Kindergärten und Schulklassen keinen Unterschied. Die zweite Frage ist, ab wann hat man Zugang zu den sozialen Sicherungssystemen? Reichen da schon geringfügige Beschäftigungen?

Das war eine Diskussion, die wir immer mit der Bundesregierung bis jetzt geführt haben. Und die gesagt haben, da kann man keine Ausnahmen machen. Also was fehlt ist schlichtweg, dass sich und Regierungen auf Landes- und Bundesebene solcher Probleme wirklich annehmen und sagen das wollen wir mit ihnen gemeinsam lösen. Mein Eindruck war eher: Wir haben da gestört. Und am Ende war Gelsenkirchen und die Probleme viel zu klein für die große Bundes- oder Landespolitik.

Kriegt man jetzt die Quittung dafür?

Ich würde das jetzt, was jetzt passiert, nicht nur auf dieses Thema reduzieren. Und das hat natürlich auch etwas mit einer Gesamtlage in Deutschland zu tun, die natürlich auch hier eine Rolle spielt. Eine deprimierende, ökonomisch schwierige Situation. Das spielt natürlich in Gelsenkirchen auch eine Rolle. Und dann kommt das noch obendrauf. Ohne die Wahlergebnisse entschuldigen zu wollen, aber das führt dann eben mit zunehmender Zeit zu wahrscheinlich solchen Ergebnissen.

Die SPD galt immer als eine Partei der Arbeiter. Man fragt sich heute: Für wen steht sie? Was ist die SPD eigentlich noch?

Das ist eine gute Frage. Und nicht ich bin mir gar nicht sicher, ob die SPD das in Gänze so beantworten würde. Deshalb ist aus meiner Sicht ganz dringend, dass wir eine Positionsbestimmung als Partei durchführen. Ich bin fest der Auffassung, dass ein Blick ganz klar auf die Mitte dieser Gesellschaft richtig ist. Das sind die Menschen, die eigentlich immer auf die SPD gesetzt haben und jetzt sagen ihr kümmert euch um alles Mögliche: Um Cannabis-Freigabe und anderes. Aber um uns kümmert ihr euch nicht! Das mag gar nicht so in der Generalität immer stimmen – aber es ist der Eindruck. Und vor diesem Hintergrund finde ich eine grundsätzliche Diskussion über Inhalte der SPD für ganz bedeutend und wichtig.

Die Linken sind ja überraschend stark geworden. Die schicken jetzt Kfz-Mechatroniker und Krankenpfleger ins Parlament nach Berlin. Warum kann die SPD das nicht mehr?

Das hat was mit der Mitgliedschaft der SPD zu tun. Damit, dass viele, die bei uns Mitglied sind, eben nicht mehr zu den Menschen gehören, die sie gerade erwähnt haben. Und auch da ist die Frage, ob man immer nur nach Jung und Alt oder Frau und Mann guckt oder ob man nicht auch schauen muss, dass man eine Mischung der Bevölkerung in so einem Parlament bekommt. Das ist schwierig. Man muss wahrscheinlich auch bewusst auf Menschen zugehen und sagen „Wollt ihr kandidieren?“. Das ist schon ambitioniert. Aber ich glaube auch da, wenn man wirklich die Bevölkerung repräsentieren will, dann geht kein Weg auch an solchen Gedanken vorbei.

Hat also eine Entkopplung stattgefunden, bei der man in Berlin die Probleme in den Kommunen gar nicht mehr sieht?  

Es wird ja immer gesagt, die kommunale Familie, das sei die Schule der Demokratie. Das höre ich in allen Reden und auf Parteitagen. Aber wenn es dann darum geht, bei Entscheidungen dabei zu sein, ist die kommunale Familie eher am Katzentisch. Das ist so. Die europäische Ebene hat sogar bei der SPD einen Sitz im Parteipräsidium. Das ist für die kommunale Familie Wunschdenken und deshalb finde ich es würde Sinn ergeben die kommunalen Praktiker ein bisschen stärker einzubinden. Dann würde man auch eine Rückmeldung bekommen, ob Gesetze vielleicht viel zu kompliziert sind. Oder auch ob Dinge, die man in Berlin vielleicht auf die Schiene setzt, vor Ort gar nicht funktionieren. Da müsste es wieder ein stärkeres Miteinander geben. Ich wünsche mir, dass dieses Wahlergebnis auch dazu ein bisschen beiträgt.

Das Interview führte Daniela Becker.

Über dieses Thema berichten wir auch im WDR Fernsehen: In der Sendung Westpol am 02.03.2025 um 19:30 Uhr.