Ein Alterspräsident von der AfD, der Abgeordnete ruppig zurechtweist. Sitzungsunterbrechungen, Ordnungsrufe und am Ende eine Klage vor dem Thüringer Verfassungsgerichtshof. Die konstituierende Sitzung des Landtags in Thüringen stellt wohl ein Novum in der deutschen Parlamentsgeschichte der letzten Jahrzehnte dar. Wäre Ähnliches eigentlich auch in NRW möglich?
Zwar ist die AfD laut Umfragen weit entfernt davon, in NRW stärkste Partei zu werden wie in Thüringen, dennoch lohnt ein Blick darauf, ob die parlamentarische Demokratie in Nordrhein-Westfalen auf solche Krisen vorbereitet ist.
Geschäftsordnung ist in NRW anders
Ein Hauptunterschied ist schon die Formulierung in der Geschäftsordnung des Landtags. In Thüringen gilt: "Die stärkste Fraktion schlägt ein Mitglied des Landtags für die Wahl zur Präsidentin beziehungsweise zum Präsidenten vor." Bereits viele Monate vor der Wahl in Thüringen hatte es Vorschläge zur Änderung der Geschäftsordnung gegeben - mit dem Ziel, einen AfD-Parlamentspräsidenten zu verhindern. Doch zu einer Änderung kam es nicht.
In NRW heißt es hingegen in der Geschäftsordnung: "Nach Feststellung der Beschlussfähigkeit des Landtags werden die Präsidentin bzw. der Präsident und drei Vizepräsidentinnen bzw. Vizepräsidenten in getrennten Wahlgängen in geheimer Wahl für die Dauer der Wahlperiode gewählt."
Ein direkter Verweis auf ein Vorschlagsrecht der stärksten Fraktion fehlt also im Düsseldorfer Landtag. In NRW ist es allerdings bisher eine ungeschriebene Regel, dass die stärkste Fraktion den Präsidenten stellt. Derzeit ist das André Kuper von den Christdemokraten.
NRW-Verfassungsgericht: Keine Fraktion hat Anspruch
Streit gab und gibt es im Düsseldorfer Landtag immer mal wieder um die Frage, welche Fraktion einen Vizepräsidenten stellen darf. Die AfD ist bisher nicht im Präsidium vertreten. Ähnlich erging es den Piraten in der Wahlperiode von 2012 bis 2017. Die Piraten klagten dagegen.
Der NRW-Verfassungsgerichtshof in Münster betonte jedoch in seinem Beschluss von 2016 "die Freiheit der Abgeordneten, mit Mehrheit sowohl über die Zahl der Stellvertreter der Präsidentin bzw. des Präsidenten des Landtags als auch über die zu wählenden Personen zu bestimmen". Es gebe "keinen Anspruch jeder Fraktion, aus ihren Reihen eine Vizepräsidentin bzw. einen Vizepräsidenten stellen zu können".
Warnung vor Landtags-Chaos in NRW
Auf eine Schwachstelle in Nordrhein-Westfalen weist der Düsseldorfer Politikwissenschafter Stefan Marschall hin: "Aber auch in NRW gibt es die Funktion eines Alterspräsidenten bei der Konstituierung des Landtags, der die Sitzung leitet, bis der/die Präsident/in gewählt worden ist." Hierbei sei - wie in Thüringen - das Lebensalter und nicht das "Dienstalter" entscheidend.
Der Politik-Professor von der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf: "Die Rolle des Alterspräsidenten ist auch im NRW-Landtag nicht völlig klar und eine chaotische Konstituierung des Landtags nicht ausgeschlossen, wenn eine nicht geeignete Person diese Aufgabe wahrnehmen darf."
Der Bundestag hatte die Regelung zum Alterspräsidenten bereits vor Jahren geändert, als absehbar wurde, dass ein AfD-Politiker diese Rolle übernehmen könnte. Im Bundestag ist nun das Dienstalter entscheidend.
Es bleibt abzuwarten, ob NRW eine ähnliche Regelung schafft. Die Fraktionen im Landtag sind aber zumindest bereits im Gespräch darüber.
Was die Fraktionen im NRW-Landtag sagen
Matthias Kerkhoff, Parlamentarischer Geschäftsführer der CDU, sagte am Freitag: "Unabhängig von Thüringen sind die demokratischen Fraktionen des Landtags in Nordrhein-Westfalen – CDU, SPD, Grüne und FDP – regelmäßig im Austausch darüber, wie wir die Demokratie des Landes schützen und stärken können." Aktuell gebe es "keinen akuten" Handlungsbedarf.
Ina Blumenthal, Parlamentarische Geschäftsführerin der SPD: "Wir beobachten sehr genau, wie man in den anderen Landtagen mit der Geschäftsordnung umgeht." Man sei jederzeit bereit, die Vorgaben des Landtags NRW anzupassen, um die parlamentarische Demokratie zu verteidigen.
"Wir haben in der Geschäftsordnung des Landtags kürzlich bereits zum Beispiel die Möglichkeit geschaffen, Sachverständige abzuwählen, wenn diese nicht auf dem Boden unseres Grundgesetzes stehen", sagte Mehrdad Mostofizadeh (Grüne). Weitere Änderungen würden geprüft.
Die AfD im Landtag teilte hingegen mit: "Die Regeln und Gesetze in NRW sind ausreichend und sollten für alle gleichermaßen gelten."
Marcel Hafke von der FDP kündigte an, die Regularien des Landtags darauf abzuklopfen, ob sie "einen effektiven Schutz vor Missbrauch bieten und den demokratischen Ablauf im Parlament gewährleisten".