Die Von Bodelschwinghsche Stiftung Bethel in Bielefeld war jahrzehntelang ein Versuchslabor der Pharmaindustrie. Psychopharmaka und Mittel gegen Epilepsie, die in Deutschland noch nicht zugelassen waren, wurden dort zwischen 1949 und 1975 an hunderte Kinder verabreicht. Es ist einer der wenigen gut dokumentierten Fälle, die zeigen, wie Heimkinder in NRW von der Pharmaindustrie systematisch für Medikamententests missbraucht wurden.
Psychopharmaka, um Kinder ruhig zu stellen
In den fünfziger, sechziger und siebziger Jahren waren die Kinderheime in einem katastrophalen Zustand. Kinder und Jugendliche mussten in großen Schlafsälen übernachten, es gab wenig und nur schlecht qualifiziertes Personal, außerdem herrschte ein strenger, autoritärer Erziehungsstil.
Psychopharmaka waren bei den Heimleitungen eine beliebtes Mittel, um Kinder ruhig zu stellen. Das erkannten die Pharmakonzerne und führten in Absprache mit Behörden und Ärzten an den Heimkindern Testreihen mit teilweise noch nicht erprobten Medikamenten durch.
“Kotzspritzen” und "Betonspritzen"
“Viele Kinder berichten, dass sie sogenannte Betonspritzen bekommen haben, sogenannte Kotzspritzen”, sagt Medizinethiker Heiner Fangerau von der Universität Düsseldorf, “das waren dann Medikamente, die dafür gesorgt haben, dass die Kinder einfach so vor sich hindämmern, oder erbrechen müssen, dass die Kinder am Leben so einer Einrichtung nicht mehr teilnehmen konnten.”
Die Pharmakonzerne testeten auch Hormonpräparate, hier war das Ziel, die Sexualität der Heimkinder zu unterdrücken. Die Versuche hatten für einige der Betroffenen weitreichende gesundheitliche Folgen, manche leiden noch heute unter den Spätfolgen.
Ahnungslose Probanden
Die Minderjährigen hatten dabei fast immer keine Ahnung davon, dass sie an einem Medikamentenversuch teilnehmen. Dies legen Untersuchungsergebisse aus Niedersachsen und Schleswig-Holstein nahe, wo solche Tests ebenfalls gängige Praxis waren. Viele der Betroffenen waren Waisen, die Behörden, die in solchen Fällen die Vormundschaft hatten, sollen bewusst weggeschaut und die Arbeit der Pharmakonzerne gebilligt haben.
Anerkennung für die Betroffenen
Die Landesregierung geht davon aus, dass deutlich mehr Kinderheime betroffen sind, als bisher bekannt. Ein Forscherteam rund um den Düsseldorfer Medizinethiker Heiner Fangenau soll jetzt das dunkle Kapitel der Heimerziehung in NRW aufarbeiten.
Die Archive von Behörden, Kinderheimen und Pharmakonzernen werden dafür durchforstet. Gleichzeitig können sich Zeitzeugen über das Internet melden und ihre Geschichte mitteilen.
All das soll dann zu einem möglichst genauen Gesamtbild dessen zusammengeführt werden, was damals passiert ist. Für die Heimkinder, die teilweise unter den Folgen noch bis heute leiden, geht es um Anerkennung, erzählt Medizinethiker Fangenau. “Dass die sehen, die sind nicht alleine, die Gesellschaft befasst sich mit dem Thema und es wird nicht unter den Teppich gekehrt.”
Der WDR berichtet auch am 04.07.2022 auf WDR5 im Radio über dieses Thema.