Immer mehr neue Studien der letzten Wochen belegen eindrücklich, wie teils dramatisch es um die Bildung von Kindern und Jugendlichen auch in NRW bestellt ist. Von "alarmierenden Befunden" spricht die Ständige Wissenschaftliche Kommission der Kultusministerkonferenz (SWK): Viele Kinder verfügten beim Übergang in die weiterführende Schule beim Lesen, Schreiben und Rechnen nicht über die nötigen Mindeststandards. Fast ein Viertel der Sieben- bis Zehnjährigen seien außerdem psychisch auffällig.
Der jährliche IQB-Bildungstrend der Humboldt-Universität Berlin stellte im Oktober fest, dass 21 Prozent der Grundschülerinnen und -schüler in NRW den Mindeststandard nicht erreichen, 32 Prozent können nur schlecht schreiben. Nach Berlin, Bremen und Hamburg schneidet NRW dabei am schlechtesten ab. Seit 2016, so der Bericht, habe sich die Situation in NRW eklatant verschlechtert.
Besonders problematisch wird die Situation in NRW angesichts des massiven Lehrermangels. Anfang Dezember hatte die Landesregierung Zahlen veröffentlicht. Demnach sind an den Schulen NRWs aktuell rund 8.000 Lehrerstellen nicht besetzt. Zwar wurden mittlerweile neue Stellen geschaffen - doch viele davon sind ohne Besetzung, Kandidaten nicht in Sicht.
Von einer "Bildungskatastrophe" spricht daher die SPD-Fraktion im Landtag. Für Freitagmorgen hatte sie eine Aktuelle Stunde zum Thema beantragt - noch bevor die schwarz-grüne Landesregierung kommende Woche im Schulausschuss ein Konzept zur Bewältigung des Lehrermangels vorstellen will. In einer aufgeheizten Debatte schlugen sich die Parteien gegenseitig Schuldzuweisungen um die Ohren.
SPD: "Schulrevolution" statt "Peu-à-peu-Strategie"
Immerhin: Einig waren sich alle, dass der Lehrkräftemangel und die damit drohende Bildungskrise derzeit die größte Herausforderung für NRW darstellt. Bildung, so der stellvertretende Vorsitzende der SPD-Fraktion Jochen Ott, sei die "Mutter aller Lösungen" bei den relevanten Themen wie Klimaschutz, Digitalisierung, gesellschaftlichem Wohlstand. Statt einer "Peu-à-peu-Strategie", wie sie Schulministerin Dorothee Feller (CDU) angekündigt hatte, brauche es eine "Schulrevolution", forderte Ott.
CDU: "Nicht bei Wünsch Dir was"
Der Tenor bei den regierenden Parteien durchweg: Man sei sich der Brisanz des Problems bewusst, habe sich aber doch "auf den Weg gemacht", wie es die schulpolitische Sprecherin der CDU, Claudia Schlottmann, und später auch die Grünen formulierten. Schlottmann verwies auf mehrere tausend neu geschaffene Lehrerstellen - allein 1.000 zur Beschulung ukrainischer Flüchtlingskinder - die jetzt nach und nach besetzt würden.
Doch genau da hapert es offenbar, wie die Daten von Anfang Dezember zeigen. Die Lücke der nicht besetzten Lehrerstellen war zuletzt immer größer geworden. Sie wünsche sich das anders, sagte Schlottmann, "leider sind wir aber nicht bei Wünsch Dir was".
FDP überrascht mit Vorschlägen
Die vergangenen vier Jahre hatte die glücklose Schulministerin der FDP, Yvonne Gebauer, in der Verantwortung gestanden. Ihr war es in dieser Zeit offensichtlich nicht gelungen, den Lehrkräftemangel oder die Ausbildungssituation zu verbessern. Umso überraschender, dass jetzt ihr Parteikollege Andreas Pinkwart mit konkreten Ideen zur Verbesserung der "Katastrophe" ans Rednerpult trat.
Die FDP, so Pinkwart, wolle ihre Vorschläge zur einer "Lehrkräfteoffensive" nächste Woche im Landtag vorstellen. Demnach sollten Schulen künftig ganzjährig neue Lehrkräfte einstellen können, statt - wie bisher - nur zu bestimmten Stichtagen. Die Lehrerausbildung müsse grundsätzlich ausgebaut werden, nicht nur bei offensichtlichem Bedarf. Schulleitungen sollten bei der Personalverwaltung mehr Eigenverantwortung bekommen.
Grüne: Putins Krieg zerstört Prognosen
Überraschend klang auch der Einwurf der Grünen Lena Zingsheim-Zobel, die den gegenwärtigen Lehrermangel unter anderem mit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine in Verbindung brachte. Angesichts zehntausender neuer Schulkinder habe sich bezüglich des Lehrkräftebedarfs "jede Prognose erledigt". Das sei "kein Versagen, das ist die Realität". Als Oppositionspartei hatten sich die Grünen bis zur Landtagswahl im Mai noch heftig an der holprigen Schulpolitik der CDU/FDP-Koalition abgearbeitet.
Zingsheim-Zobel wies aber auch darauf hin, dass viele Lehramtskandidaten nach sechs Jahren Studium, Referendariat und unbezahlten Praktika müde und erschöpft seien. Was den schulpolitischen Sprecher der FDP Pinkwart mit einem weiteren Vorschlag auf den Plan rief: Dann solle man doch den unbezahlten Praktikanten eine Aufwandsentschädigung geben, "das könnte ein Beitrag sein". Zudem könne man Ehrenamtliche dazu bewegen, ukrainischen Kindern Deutschunterricht zu geben.
Schulministerin Dorothee Feller (CDU), die sich auffällig zurückhaltend äußerte, brachte das NRW-Dilemma wahrscheinlich unfreiwillig auf den Punkt: Die Gewinnung neuer Lehrkräfte werde "eine Daueraufgabe" sein.
Über das Thema berichtet der WDR am 9.12.22 im Westblick auf WDR 5 und in der Aktuellen Stunde im WDR Fernsehen.