Sie sehe es als ihre Verantwortung an, die Begebenheiten nach dem mutmaßlich islamistischen Anschlag in Solingen weiter aufzuarbeiten, betonte die Grünen-Politikerin am Freitagabend im WDR-Fernsehen: "Wir haben die letzten Tage intensiv genutzt, um die Sachverhalte weiter aufzuklären. Daran werden wir natürlich auch weiter arbeiten. Das muss zunächst im Fokus stehen."
Seit dem Messerangriff am vergangenen Freitag steht die NRW-Fluchtministerin gehörig unter Druck. Auch, weil interne Unterlagen den Eindruck erwecken, dass ihr Haus bei wichtigen Regeln zur Rücküberstellung in andere EU-Länder offenbar noch Tage nach dem Anschlag nicht sattelfest war. Das geht aus dem Mail-Verkehr des Ministeriums mit der Bundesanstalt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) hervor, den der WDR einsehen konnte.
Paul nach langem Schweigen in der Kritik
Am Dienstag, den 27. August, war Paul um 16 Uhr erstmals nach dem Anschlag vor die Kameras getreten. Vier Tage nachdem ein Syrer, der eigentlich im Jahr zuvor aus Deutschland abgeschoben werden sollte, drei Menschen getötet und acht weitere teils schwer verletzt hatte.
Das lange Schweigen der Ministerin im Anschluss hatte da bereits für Kritik gesorgt. Noch bis kurz vor dieser Pressekonferenz wurden in ihrem Haus offenbar hektisch Informationen zusammengesucht. Nicht nur zu den Details des Asylverfahrens des mutmaßlichen Täters. Sondern auch zu elementaren Regeln bei der Rückführung von Asylbewerbern in andere EU-Länder.
Unsicherheit bei sehr grundsätzlichen Fragen
Noch gut eine Stunde vor dem Pressegespräch - um 14.40 Uhr - stellte eine Mitarbeiterin per Mail grundsätzliche Fragen an das BAMF zu Überstellungen nach Europäischem Flüchtlingsrecht. Sie arbeitet im für "Integriertes Rückkehrmanagement" zuständigen Referat 523 des Fluchtministeriums.
In einer E-Mail mit dem Betreff "Dublin Überstellungen" will sie wissen, ob die Bedingungen bei entsprechenden Rückführungen einfach vom aufnehmenden Staat vorgegeben werden. "Oder gibt/gab es hierzu Verhandlungen zwischen den MS und der BRD?" fragt sie, wobei MS für "Mitgliedsstaat" der EU steht.
"Rückfragen, die durch mich nicht beantwortet werden können"
Sie fragt außerdem, ob es von deutscher Seite Aufnahmekriterien gibt, "wenn z.B. Bulgarien jemanden zu uns überstellen will?". Auch, ob diese Bedingungen "analog zu sehen" sind zu den bulgarischen Vorgaben an Deutschland, will sie wissen. In der E-Mail teilt sie mit, es hätten sich entsprechende "Rückfragen ergeben, die durch mich nicht beantwortet werden können, sondern im Zuständigkeitsbereich des BAMFs liegen".
Dort war man verwundert über die kurzfristige Anfrage aus NRW: Das Thema gehöre doch eigentlich zur "Kernaufgabe" des Ministeriums, heißt es nach WDR-Informationen aus der Bundesbehörde.
Die oppositionelle SPD kritisiert die Zustände im Ministerium: "Scheinbar herrschen bei Ministerin Paul chaotische Zustände. Das könnte auch erklären, warum die Ministerin bis Dienstag regelrecht abgetaucht war. Sie wusste offenbar nicht Bescheid und musste sich hektisch noch grundsätzliche Informationen zusammentragen lassen", sagte Lisa-Kristin Kapteinat, die stellvertretende Fraktionsvorsitzende.
Im WDR verteidigte Fluchtministerin Paul nun das Vorgehen ihrer Abteilung.
Frage nach offiziellen Dokumenten
Die Frage der Mitarbeiterin von Referat 523 berührt einen zentralen Punkt der politischen Debatte nach dem Anschlag mit drei Todesopfern. Der mutmaßliche Täter hätte zum Zeitpunkt des Anschlags gar nicht mehr in Deutschland sein sollen - es war geplant, ihn nach dem so genannten Dublin-Verfahren der EU nach Bulgarien abzuschieben. Doch das gelang nicht. Seitdem wird heftig über ein mögliches Behördenversagen diskutiert.
Auch Fluchtministerin Paul sprach nach dem Anschlag mehrfach von einem "dysfunktionalen" Asylsystem. Der Schriftverkehr legt nun den Verdacht nahe, dass sich ihr Haus mit einer der zentralen Handreichungen des BAMF bislang nur oberflächlich befasst hatte: Eine weitere E-Mail der gleichen Ministeriums-Mitarbeiterin trägt den Betreff "Vorgaben bei Dublin-Überstellungen".
Darin geht es um einen Leitfaden zur Zusammenarbeit der Ausländerbehörden mit dem BAMF bei Dublin-Verfahren. Das Dokument habe sie "vor geraumer Zeit" von einer Zentralen Ausländerbehörde aus NRW "zugesandt bekommen". Nun will die Frau aus dem Fluchtministerium vom Adressaten wissen, "ob es sich um ein offizielles Dokument" handelt.
Ausländerbehörden mit Leitlinien nicht vertraut?
Die kurzfristigen Nachfragen ans BAMF am Tag der Pressekonferenz erklärt das Ministerium auf WDR-Anfrage damit, dass die Überstellungsmodalitäten an andere EU-Länder sich ändern könnten. Der Leitfaden zur Zusammenarbeit mit dem BAMF habe im Ministerium vorgelegen. Man habe aber in Erfahrung bringen wollen, ob das Dokument auch allen Ausländerbehörden in NRW zugegangen sei.
Die fünf Zentralen Ausländerbehörden in NRW sind zuständig für die Abschiebungen und Rückführungen von Flüchtlingen, die in den Aufnahmeeinrichtungen des Landes untergebracht sind. Doch die Mitarbeiterin des Fluchtministeriums, die zudem für "Rückkehrmanagement" zuständig ist, scheint nicht sicher zu sein, dass alle Ausländerbehörden die Leitlinien des BAMF in der Praxis berücksichtigen.
Nur ein Bruchteil der EU-Rückführungen gelingen
Und das, obwohl das Ministerium dem Landtag schon 2023 auf mehrere Kleine Anfragen der AfD-Fraktion offenlegen musste, dass nur ein Bruchteil der Rücküberstellungen in andere EU-Länder tatsächlich gelingt. Spätestens da war also ersichtlich, dass ein Scheitern "eher die Regel und nicht die Ausnahme ist" - wie es NRW-Fluchtministerin Paul auch am Donnerstag bei der Sondersitzung der zuständigen Ausschüsse zum Solingen-Attentat im Landtag formulierte.
Sie machte dort erneut problematische EU-Vorgaben und ein "fehleranfälliges System" für die gescheiterte Abschiebung des mutmaßlichen Attentäters mitverantwortlich. Auch von Versäumnissen der Ausländerbehörden in NRW sprach die Ministerin. Ihr eigenes Haus erwähnte sie dabei allerdings nicht.
Über dieses Thema berichtete der WDR am 30.08.2024 unter anderem im Fernsehen in der Aktuellen Stunde.