Schlechte psychiatrische Versorgung für Kinder 02:34 Min. Verfügbar bis 27.10.2026

Exklusiv: Kinder- und Jugendpsychiatrien in NRW nahezu ausgelastet

Stand: 27.10.2024, 08:25 Uhr

Exklusive Zahlen von Westpol zeigen: Kinder- und Jugendpsychiatrien sind nahezu komplett ausgelastet, teilweise schon überlastet.

Von Laura Kasprowiak und Selina Marx

Ein erschütternder Fall aus Duisburg verdeutlicht die dramatische Lage in der Kinder- und Jugendpsychiatrie in NRW: Der achtjährige Finn hat Depressionen. Im Sommer spitzt sich die Situation zu, der Junge möchte aus dem Fenster springen. Seine Großmutter kann ihn im letzten Moment zurückhalten.
Finn wird ins Bertha-Krankenhaus gebracht – das einzige Duisburger Krankenhaus mit einer Kinderpsychiatrie. Doch die Ärzte stuften seinen Fall als "nicht akut“ ein. Die Familie muss ihn wieder mit nach Hause nehmen.

Falsche Einschätzung der Ärzte?

Doch nur eine Woche später kommt ein weiteres ärztliches Gutachten zu dem Ergebnis: "Es besteht die Gefahr, dass er sich tötet oder sich erheblichen Schaden zufügt." Finn bekommt schließlich einen Platz in einer Klinik am Niederrhein.

Das Bertha-Krankenhaus hingegen bleibt auch auf WDR-Nachfrage bei seiner Einschätzung. Das NRW-Gesundheitsministerium teilt auf WDR-Anfrage in einer ersten Einschätzung mit: "Nach ärztlicher Einschätzung bestand keine entsprechende Gefährdungslage. Eine akute Suizidalität wurde durch das medizinische Personal ausgeschlossen." An der Aufklärung des Falls werde aber weiter gearbeitet, so das Ministerium.

Volle Kinder- und Jugendpsychiatrien in NRW

Unterschiedliche ärztliche Bewertungen, das verzweifelte Suchen nach Hilfe. Finns Schicksal wirft ein Schlaglicht auf die angespannte Situation in NRW

Hier gibt es 24 Kinder- und Jugendpsychiatrien, die für die Akutversorgung zuständig sind. Eine Abfrage von Westpol zeigt: die Mehrheit der Kliniken ist zu 100 Prozent ausgelastet - freie Betten gibt es so gut wie keine. Einzelne Kliniken geben an, sogar schon überlastet zu sein.

Überbelastung kann zu Fehlern führen

Der SPD-Landtagsabgeordnete Rodian Bakum ist Arzt und hat in Psychiatrien gearbeitet. Ihn besorgt, dass überlastetes Personal eher Fehler macht: "Da passieren täglich Fehler. Das muss man ganz klar sagen."

Steigende Zahlen seit Corona: Wartezeiten von bis zu 12 Monaten

Seit der Corona-Pandemie sind die Anfragen und die Anzahl der psychischen Erkrankungen bei jungen Menschen stark gestiegen. Laut einer Studie der DAK-Gesundheit haben psychische Diagnosen bei Kindern und Jugendlichen um 28 Prozent zugenommen.

Betrachtet man allein die Zahl der Kinder- und Jugendlichen, die wegen Depressionen stationär in NRW aufgenommen wurden, stieg die Zahl zwischen 2014 und 2022 um gut 25 Prozent.

Martin Holtmann, Leiter der Kinder- und Jugendpsychiatrie LWL-Uniklinik Hamm | Bildquelle: WDR

Martin Holtmann leitet die Fachklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie der LWL-Uniklinik in Hamm. Er sieht einen klaren Zusammenhang zwischen der Corona-Pandemie und den steigenden Zahlen: "Wir merken, z. B. bei den Essstörungen oder den Depressionen, da sind Kinder und Jugendliche, da ist in der Coronazeit irgendetwas verschleppt worden und die kommen jetzt mit sehr ernsten Zustandsbildern."

Das Problem: Mit jedem neu aufgenommenen Patienten wächst die Warteliste. Inzwischen sind in NRW Wartezeiten von sechs bis zwölf Monaten üblich. In dieser Zeit können sich Krankheiten wie Depressionen dramatisch verschlechtern. Vor der Pandemie betrugen die Wartezeiten eher vier bis sechs Wochen.

Mehr Personal nötig

Martin Holtmann wünscht sich deshalb, dass mehr Ärzte ausgebildet werden und eine stärkere Vernetzung mit anderen Institutionen, z. B. durch Schulsozialarbeiter, die auffällige Schüler frühzeitig erkennen.  

Vom Land gibt es seit 2019 eine Initiative, die verschiedene Präventionsprojekte finanziell unterstützt, z. B. für Resilienz bei Kindergartenkindern. Gleichzeitig wird allerdings im Haushalt bei der psychiatrischen Versorgung gespart. 

Rodion Bakum, SPD-Landtagsabgeordneter | Bildquelle: WDR/Michael Gstettenbauer

Das kritisiert die SPD-Fraktion im NRW-Landtag. "Es gibt z. B. die sog. psychiatrische Versorgung für Verbundsstrukturen. Dort gab es bisher drei Millionen Euro, aber das wird jetzt um die Hälfte gekürzt. Letztes Jahr gab es schon Kürzungen im Suchtbereich und so entsteht eine Spirale, die nach unten führt.", sagt der SPD-Politiker Rodion Bakum.

Land plant Stärkung mit Krankenhausreform, aber Fachkräfte fehlen

Das Gesundheitsministerium erklärt dazu auf WDR-Nachfrage, der neue Krankenhausplan des Landes solle mit einer “Stärkung der psychiatrischen und psychosomatischen Versorgung für Kinder und Jugendliche im stationären wie auch im teilstationären Bereich einhergehen.”

Das heißt, die Kliniken könnten sich auf Antrag vergrößern. Doch das Ministerium gibt auch zu: “Hierbei stellt die Verfügbarkeit entsprechend qualifizierter Fachkräfte eine erhebliche Einschränkung dar.”

Es fehlt also auch weiterhin an Fachkräften und damit an Menschen, die Kindern wie dem kleinen Finn helfen können.  

Kinder- und Jugendpsychatrien teils überlastet WDR Studios NRW 27.10.2024 00:53 Min. Verfügbar bis 27.10.2026 WDR Online

Kein Platz mehr: Kinder- und Jugendpsychiatrien in NRW WDR 5 Morgenecho - Interview 28.10.2024 07:13 Min. Verfügbar bis 28.10.2025 WDR 5

Download

Hier gibt es Hilfe bei Suizidgedanken

  • Die Telefonseelsorge ist unter den Rufnummern 0800/111 0 111 und 0800/111 0 222 sowie 116 123 rund um die Uhr erreichbar. Sie berät kostenfrei und in jeder Hinsicht anonym. Die Telefonseelsorge bietet auch einen Chat und eine E-Mail-Beratung an, ebenfalls anonym.

  • Das muslimische Seelsorgetelefon ist kostenfrei und anonym unter der Rufnummer 030/44 35 09 821 rund um die Uhr erreichbar.

  • Das Hilfetelefon Opfer von häuslicher Gewalt ist anonym, kostenfrei und rund um die Uhr unter 08000 116 016 erreichbar.

  • Der Weiße Ring bietet ebenfalls einen anonymen Telefondienst unter 116 006 sowie eine Online-Beratung.
  • Darüber hinaus hat die Deutsche Gesellschaft für Suizidprävention (DGS) zahlreiche Informationen zu Beratungsstellen, Selbsthilfegruppen und sozialpsychiatrischen Diensten aufgelistet, an die sich Suizidgefährdete und Angehörige wenden können, um Hilfe zu erhalten.

Unsere Quellen:

  • eigene Recherche
  • Familie des Jungen
  • Bertha-Krankenhaus
  • NRW-Gesundheitsministerium
  • DAK Gesundheit