Ein erschütternder Fall aus Duisburg verdeutlicht die dramatische Lage in der Kinder- und Jugendpsychiatrie in NRW: Der achtjährige Finn hat Depressionen. Im Sommer spitzt sich die Situation zu, der Junge möchte aus dem Fenster springen. Seine Großmutter kann ihn im letzten Moment zurückhalten.
Finn wird ins Bertha-Krankenhaus gebracht – das einzige Duisburger Krankenhaus mit einer Kinderpsychiatrie. Doch die Ärzte stuften seinen Fall als "nicht akut“ ein. Die Familie muss ihn wieder mit nach Hause nehmen.
Falsche Einschätzung der Ärzte?
Doch nur eine Woche später kommt ein weiteres ärztliches Gutachten zu dem Ergebnis: "Es besteht die Gefahr, dass er sich tötet oder sich erheblichen Schaden zufügt." Finn bekommt schließlich einen Platz in einer Klinik am Niederrhein.
Das Bertha-Krankenhaus hingegen bleibt auch auf WDR-Nachfrage bei seiner Einschätzung. Das NRW-Gesundheitsministerium teilt auf WDR-Anfrage in einer ersten Einschätzung mit: "Nach ärztlicher Einschätzung bestand keine entsprechende Gefährdungslage. Eine akute Suizidalität wurde durch das medizinische Personal ausgeschlossen." An der Aufklärung des Falls werde aber weiter gearbeitet, so das Ministerium.
Volle Kinder- und Jugendpsychiatrien in NRW
Unterschiedliche ärztliche Bewertungen, das verzweifelte Suchen nach Hilfe. Finns Schicksal wirft ein Schlaglicht auf die angespannte Situation in NRW.
Hier gibt es 24 Kinder- und Jugendpsychiatrien, die für die Akutversorgung zuständig sind. Eine Abfrage von Westpol zeigt: die Mehrheit der Kliniken ist zu 100 Prozent ausgelastet - freie Betten gibt es so gut wie keine. Einzelne Kliniken geben an, sogar schon überlastet zu sein.
Überbelastung kann zu Fehlern führen
Der SPD-Landtagsabgeordnete Rodian Bakum ist Arzt und hat in Psychiatrien gearbeitet. Ihn besorgt, dass überlastetes Personal eher Fehler macht: "Da passieren täglich Fehler. Das muss man ganz klar sagen."
Steigende Zahlen seit Corona: Wartezeiten von bis zu 12 Monaten
Seit der Corona-Pandemie sind die Anfragen und die Anzahl der psychischen Erkrankungen bei jungen Menschen stark gestiegen. Laut einer Studie der DAK-Gesundheit haben psychische Diagnosen bei Kindern und Jugendlichen um 28 Prozent zugenommen.
Betrachtet man allein die Zahl der Kinder- und Jugendlichen, die wegen Depressionen stationär in NRW aufgenommen wurden, stieg die Zahl zwischen 2014 und 2022 um gut 25 Prozent.
Martin Holtmann leitet die Fachklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie der LWL-Uniklinik in Hamm. Er sieht einen klaren Zusammenhang zwischen der Corona-Pandemie und den steigenden Zahlen: "Wir merken, z. B. bei den Essstörungen oder den Depressionen, da sind Kinder und Jugendliche, da ist in der Coronazeit irgendetwas verschleppt worden und die kommen jetzt mit sehr ernsten Zustandsbildern."
Das Problem: Mit jedem neu aufgenommenen Patienten wächst die Warteliste. Inzwischen sind in NRW Wartezeiten von sechs bis zwölf Monaten üblich. In dieser Zeit können sich Krankheiten wie Depressionen dramatisch verschlechtern. Vor der Pandemie betrugen die Wartezeiten eher vier bis sechs Wochen.
Mehr Personal nötig
Martin Holtmann wünscht sich deshalb, dass mehr Ärzte ausgebildet werden und eine stärkere Vernetzung mit anderen Institutionen, z. B. durch Schulsozialarbeiter, die auffällige Schüler frühzeitig erkennen.
Vom Land gibt es seit 2019 eine Initiative, die verschiedene Präventionsprojekte finanziell unterstützt, z. B. für Resilienz bei Kindergartenkindern. Gleichzeitig wird allerdings im Haushalt bei der psychiatrischen Versorgung gespart.
Das kritisiert die SPD-Fraktion im NRW-Landtag. "Es gibt z. B. die sog. psychiatrische Versorgung für Verbundsstrukturen. Dort gab es bisher drei Millionen Euro, aber das wird jetzt um die Hälfte gekürzt. Letztes Jahr gab es schon Kürzungen im Suchtbereich und so entsteht eine Spirale, die nach unten führt.", sagt der SPD-Politiker Rodion Bakum.
Land plant Stärkung mit Krankenhausreform, aber Fachkräfte fehlen
Das Gesundheitsministerium erklärt dazu auf WDR-Nachfrage, der neue Krankenhausplan des Landes solle mit einer “Stärkung der psychiatrischen und psychosomatischen Versorgung für Kinder und Jugendliche im stationären wie auch im teilstationären Bereich einhergehen.”
Das heißt, die Kliniken könnten sich auf Antrag vergrößern. Doch das Ministerium gibt auch zu: “Hierbei stellt die Verfügbarkeit entsprechend qualifizierter Fachkräfte eine erhebliche Einschränkung dar.”
Es fehlt also auch weiterhin an Fachkräften und damit an Menschen, die Kindern wie dem kleinen Finn helfen können.
Hier gibt es Hilfe bei Suizidgedanken
- Die Telefonseelsorge ist unter den Rufnummern 0800/111 0 111 und 0800/111 0 222 sowie 116 123 rund um die Uhr erreichbar. Sie berät kostenfrei und in jeder Hinsicht anonym. Die Telefonseelsorge bietet auch einen Chat und eine E-Mail-Beratung an, ebenfalls anonym.
- Das muslimische Seelsorgetelefon ist kostenfrei und anonym unter der Rufnummer 030/44 35 09 821 rund um die Uhr erreichbar.
- Das Hilfetelefon Opfer von häuslicher Gewalt ist anonym, kostenfrei und rund um die Uhr unter 08000 116 016 erreichbar.
- Der Weiße Ring bietet ebenfalls einen anonymen Telefondienst unter 116 006 sowie eine Online-Beratung.
- Darüber hinaus hat die Deutsche Gesellschaft für Suizidprävention (DGS) zahlreiche Informationen zu Beratungsstellen, Selbsthilfegruppen und sozialpsychiatrischen Diensten aufgelistet, an die sich Suizidgefährdete und Angehörige wenden können, um Hilfe zu erhalten.
Unsere Quellen:
- eigene Recherche
- Familie des Jungen
- Bertha-Krankenhaus
- NRW-Gesundheitsministerium
- DAK Gesundheit