"Wir haben eine neue Zeitrechnung – Vier Wochen nach Solingen“

Stand: 23.09.2024, 10:48 Uhr

Wie die Menschen in Solingen beschäftigt. Sie reden über ihre Trauer, ihre Sorgen nach dem Anschlag und über ihre Stadt.

Von Alex Becker

Solingen. Meine Stadt. Die seit vier Wochen eine andere ist. Wieder eine andere ist. Wieder eine, die nahezu in jeder Nachrichtensendung vorkommt. Heute vor vier Wochen ist es passiert - darüber spreche ich mit den Menschen:

Uwe, Stefan und Jörn trinken gerade draußen im Stehen ihr Feierabendbierchen in der Kneipe am Neumarkt. Ein Alleinunterhalter spielt, die Menschen lächeln. Man könnte denken: was für eine nette Stadt! Aber immer wieder der Name Solingen in Zeitungen, Radio- und Fernsehnachrichten. "Wir waren ja alle irgendwie dabei an dem Abend, es ist wirklich eine Schande“, sind die Männer sich einig.

"Wir haben jetzt eine neue Zeitrechnung: vier Wochen nach Solingen." Stefan aus Solingen
Auch vier Woche danach, ist der Anschlag immer noch Thema bei Uwe, Stefan und Jörn. | Bildquelle: WDR/ Alex Becker

Eigentlich stehen sie fast jeden Abend hier, am Wochenende nach dem Anschlag sind sie aber nicht geblieben. "Da hinten standen Braune, da die Antifa – alle vermummt" – das fanden alle gruselig. "Das waren schlimme Demos hier in der Stadt". Nicht übertreiben, sind sich die drei einig. Diskussionen um den Namen "Klingenstadt“, Absage von Festen – das finden sie übertrieben. "Wir dürfen uns das nicht vermiesen lassen“.

Der Generalverdacht

Ein paar Meter weiter stehen Bayram und Kadir vor ihren Taxis und warten auf Kundschaft. Auch sie sind genervt: Solingen überall – auch die türkischen Medien berichten immer wieder über unsere Stadt oder nehmen sie zum Anlass, um über die deutsche Politik zu berichten.

Bayram und Kadir kämpfen um ihren guten Ruf. | Bildquelle: WDR/ Alex Becker

Bei fast jeder Taxifahrt käme das Thema drauf, was am 23. August passiert ist. Vor allem Besucher von außerhalb sprächen es immer an. "Für uns Ausländer ist sowas jedes Mal schlimm“, finden beide, "denn immer wieder müsse man sich seinen guten Ruf zurückerobern, erstmal stünden alle mit Migrationshintergrund unter Generalverdacht“.

"Echt scharf Solingen" - noch möglich?

Ich laufe durch meine Stadt, hin zum Frohnhof, wo am Ende drei Menschen ihr Leben verloren haben. Heute wird der letzte beerdigt. Menschen sitzen in der Sonne und genießen ihren Nachmittag. Nur vor der Stadtkirche – da ist die Erinnerung. Hunderte Grableuchten, Schilder und vor allem Blumen stehen heute da und werden wohl auch noch eine Weile bleiben.

Jo Stüpp fragt sich, wie es mit den Veranstaltungen weitergeht. | Bildquelle: WDR/ Alex Becker

Jo Stüpp kommt vorbei. Er ist Schlagzeuger der Cover-Band "SeeYou“ und ich habe ihn am Tatabend als einen der ersten interviewt. Denn als es passierte, spielte er mit seiner Band nur hundert Meter weiter auf einer der beiden anderen Veranstaltungsflächen – am Mühlenhof. Wie es ihn heute noch beschäftige, frage ich und es kommt direkt aus ihm herausgeschossen: erst gestern habe seine Frau in einer Damenrunde erlebt, wie eine Freundin spontan anfing zu weinen, als das Thema auf den Freitag vor vier Wochen kam. Das passiere eben im Moment immer wieder. "Morgen haben wir unseren ersten Auftritt – danach“, sagt Jo. Gott sei Dank privat und nicht öffentlich. Denn öffentlich, da ist er sicher, müsse er das Thema auf der Bühne kurz ansprechen, das gehört für ihn einfach dazu. Mit seinen Bandkollegen habe er sich gefragt:

"Können wir unseren „Solingen-Song – Echt scharf“ überhaupt noch spielen?"

"Ja“, waren sich alle einig.

Ohne Hilfe geht es nicht

Waldemar Gluch verarbeitet immer noch den Tatabend. | Bildquelle: WDR/ Alex Becker

Es muss weitergehen – auch für Waldemar Gluch. Ich treffe ihn in seinem Fotogeschäft – direkt am Neumarkt, wo wir alle gefeiert haben. Blass sieht er aus. Und als er gerade anfangen will zu erzählen, kommt ein Schausteller rein. "Ich wollte nur mal hören, wie wir es mit der Abrechnung der Wertmarken machen?“, sagt er. Waldemar bleibt freundlich: "Es ist alles noch in der Mache, ich melde mich – ganz sicher“. So geht das immer noch ständig – auch vier Wochen danach. Waldemar Gluch ist einer der Verantwortlichen des Stadtfestes gewesen. Seit 20 Jahren setzt er sich mit dem Werbering der Innenstadt-Händler dafür ein, dass unsere Stadt schöner wird. Das sei jetzt komplett zerstört worden. "Das wirft uns mindestens um ein Jahrzehnt zurück“, sagt er.

Immer wieder sehe ich Tränen in seinen Augen glänzen. "Nächste Woche hole ich mir professionelle Hilfe, so geht das nicht mehr“, sagt er ehrlich. Und meint: psychologische Hilfe. Dass er quasi durchgearbeitet habe, um das Fest abzuwickeln, sei die eine Sache. Aber dieser Image-Verlust unserer Stadt – immer dieses Negative, das macht ihn fertig.

"Überall hört man nur: Solingen ist schrecklich, aber das ist nicht so“. Waldemar Gluch, Inhaber eines Solinger Fotostudios

Unsere Quelle:

  • Reporterin vor Ort