Jukka-Pekka Saraste, warum gerade jetzt ein kompletter Zyklus der Beethoven- Sinfonien?
Alle Beethoven-Interpretationen brauchen ihre Zeit zum Reifen. Spielen – Pause, spielen – Pause. Die Zeit, in der wir seine Sinfonien spielen, ist genauso wichtig wie die Zeit dazwischen. Nach einer geraumen Weile fühlt sich das Orchester einer bestimmten Musik zunehmend persönlich verbunden. Und das ist es, was in den letzten acht Jahren, in denen wir jede Sinfonie – bis auf die sechste – oft gespielt haben, geschehen ist.
Was macht die Interpretation dieser Kompositionen heute aus?
Ich bin durch viele Phasen der Beschäftigung mit Beethoven gegangen. Das fing an mit dem schweren, romantischen Beethoven, den ich als Kind gehört habe. Dann kam die total überraschende, revolutionäre Entwicklung des historischen Originalklangs. Und jetzt, wo wir alle diese Informationen haben, hat sich eine neue Sichtweise ergeben. Wir wollen das Gefühl von beidem haben. Denkt man an Beethovens Charakter, gehört ein Teil von ihm durchaus in die Romantik – auch in den frühen Sinfonien, in denen man schon ahnt, was in den späteren kommen wird. Ich denke, seine Musik ist nach wie vor die Grundlage für ein Orchester. Jedes Orchester sollte seine eigene Vorstellung von Beethoven haben. Ohne diese Basis wird es auch mit anderer Musik ganz schön schwierig.
Inwiefern profitiert das Orchester durch das Spielen von Beethovens Musik?
Es gibt eine Menge verschiedener Qualitäten, die man haben muss, wenn man Beethoven spielt. Beim Vermitteln der musikalischen Botschaft zum Beispiel die Direktheit im Spiel. Die hat sich in meiner Zeit mit dem WDR Sinfonieorchester in einem kontinuierlichen Prozess immer weiter entwickelt. Aber das ist natürlich noch nicht alles. Es ist auch eine Frage, wie man Melodien spielt, welche Art von Ausdruck man den lyrischen Teilen gibt.
Was ist Ihr persönlicher Fingerabdruck bei diesen Werken?
Ich versuche, mich in den Kopf des Komponisten hineinzuversetzen, versuche Beethovens Emotionen auf die Spur zu kommen. Das ist der Schlüssel zum Verständnis seiner Musik. Man muss ständig diese Ströme aus Optimismus und Pessimismus im Gleichgewicht halten. Hinzu kommt die enorme Einsamkeit, die Beethoven gegenüber der Welt empfunden hat – und gleichzeitig dieses unglaubliche Sendungsbewusstsein, etwas Zukunftsweisendes zu hinterlassen. Das steckt alles in seiner Musik. Aber auch eine kompromisslose Lebenslust. Für Beethoven brauchen wir die volle Klangpalette, auch die aggressiven Klänge. Dieses Panorama von Klängen und musikalischen Charakteristiken muss in einer sehr flexiblen, dynamischen Art und Weise abrufbar sein. Und das versuche ich, wenn ich Beethoven dirigiere.
Sie wählen die alte Orchestersitzordnung: erste und zweite Violinen links und rechts. Ist das eine Reminiszenz an historische Zustände, ohne wirklich eine historische Aufführung anzustreben?
Es passt halt sehr gut zur Schreibweise der Partitur. Ich sage nicht: "Das ist generell die beste Sitzordnung fürs Orchester." Aber bei Beethoven ist sie für mich klanglich am ausgewogensten und klarsten. Wie die Kontrabässe mit dem Strahlen der ersten Geigen kontrastieren, das macht den Orchesterklang für meine Ohren reicher.
Was bedeutet Beethoven für Sie persönlich? Was bedeutet Beethoven für unsere Zeit?
Ich glaube, Beethovens Bedeutung für die universelle Kultur ist eine der größten überhaupt, weil seine Botschaft überall zu spüren ist. Nicht nur in Europa, sie ist überall. Eine Botschaft der Stärke, der Menschlichkeit – und sie erzählt auch vom Stellenwert der menschlichen Kultur. Es passiert so viel Zerstörerisches auf dieser Welt, dass wir uns an die Dinge halten sollten, die uns motivieren, unseren Geist zu bereichern. Das ist eine Botschaft, die wir besonders bei Beethoven finden können.
Das Gespräch führte Johannes Zink