Werkeinführung: Maurice Ravel - Shéhérazade

Von Otto Hagedorn

Malt Enescu in seiner Rumänischen Rhapsodie quasi mit Primärfarben, begegnet uns mit Ravels "Shéhérazade" ein Tongemälde in zarten Pastelltönen. Der französische Komponist fühlte sich angezogen von östlichen Ideenwelten und Klängen. Sein Klavierwerk "Gaspard de la nuit" etwa macht diesen Einfluss deutlich: Ein Vorbild dafür war Mili Balakirews Klavierstück "Islamey", das den Untertitel trägt: "Orientalische Fantasie". Balakirew war der Kopf der russischen Komponistengruppe "Die mächtigen Fünf", der auch Nikolai Rimsky-Korsakow und Modest Mussorgsky angehörten. Ein alter Scherz besagt, Ravels bekannteste Komposition sei nicht sein "Boléro" – sondern Mussorgskys "Bilder einer Ausstellung". Denn seine Orchesterfassung dieses Werks ist eine der populärsten Werke der Klassik überhaupt.

Im Jahr 1898 ist Ravel fasziniert von der Erzählsammlung "Tausendundeine Nacht". Er plant eine Oper rund um die Geschichtenerzählerin Scheherazade. Das Projekt verläuft im Sande – nur die Ouvertüre vollendet Ravel. Aber der Stoff beschäftigt ihn weiter. Fünf Jahre später veröffentlicht einer seiner Freunde, der Schriftsteller Tristan Klingsor, einige Prosa-Gedichte unter dem Titel "Shéhérazade".

Die Sammlung ist eine Hommage an die gleichnamige Orchestersuite von Rimsky-Korsakow. Ravel mit seiner besonderen Affinität zu dieser Musik fühlt sich inspiriert, drei der Gedichte Klingsors zu vertonen – übrigens ganz ohne Anklänge an seine Ouvertüre gleichen Titels. Dabei verwendet er ähnliche orientalische Musikelemente wie Rimsky-Korsakow, übersetzt sie aber stilistisch ganz in seine eigene schillernde Tonsprache. Das erste Gedicht heißt "Asie", also "Asien". Mit betörender Klangsinnlichkeit führt uns Ravel in die ferne östliche Welt, von der es im Text sehnsuchtsvoll heißt: "Asien, Asien, Asien. Fernes, altes Wunderland in den Märchen der Ammen". Im zweiten Satz, überschrieben mit "La flûte enchantée", also "Die Zauberflöte", lauscht eine junge Frau dem sanften Flötenspiel ihres Liebsten. Im dritten Satz, "L’Indifférent", "Der Gleichgültige", geht ein schöner Mann ohne jedes Interesse am Zimmer der Geliebten vorüber. Mit zarter Nuancierungskunst bringt Ravel diese Gedichte zum Klingen.