Tuncay Özdamar, geboren 1967 in der türkischen Provinz Kayseri, arbeitet seit 2005 für den WDR. Er ist seit vier Jahren Leiter der türkischen Redaktion von WDR COSMO. Seit rund 20 Jahren besitzt Özdamar ausschließlich die deutsche Staatsbürgerschaft. Vor zwei Monaten, am 30. September 2023, reist Özdamar in die Türkei, er möchte seine kranke Mutter besuchen. Am Flughafen Ankara wird er überraschend festgenommen – es liegt ein Haftbefehl gegen ihn vor. Özdamar wird nach einer Nacht in einer Arrestzelle und einer Anhörung freigelassen, kann am 6. Oktober die Türkei wieder Richtung Deutschland verlassen. Gegen ihn läuft in der Türkei jedoch weiterhin ein Ermittlungsverfahren – mit Bezug zu einem Anti-Terror-Gesetz. Die Vorwürfe erscheinen nach derzeitigem Recherchestand absurd.
Der WDR berichtet erst jetzt über den Fall, da die Berichterstattung signifikante private Auswirkungen für den Mitarbeiter haben kann. Dies musste zusammen mit Tuncay Özdamar gründlich abgewogen werden. Er unterstützt die Berichterstattung. Manche Details zum Ablauf seiner Festnahme lassen sich nicht unabhängig prüfen.
Festnahme am frühen Morgen
Als er aus dem Flugzeug auf die nächtlichen Lichter von Ankara geschaut hat, habe er sich vor allem gefreut, sagt Tuncay Özdamar. "Ich habe hier meine Jugend verbracht, habe hier studiert, bis ich 1990 nach Deutschland gegangen bin." Bei der Privatreise in die türkische Hauptstadt will der WDR-Redakteur auch seine kranke Mutter besuchen. Diese hatte er zuletzt im Sommer des vorangegangenen Jahres gesehen.
Der Flug von Köln in die türkische Hauptstadt verläuft problemlos, die Maschine landet gegen 1:30 Uhr Ortszeit. Doch schon bei der Passkontrolle am Esenboğa-Flughafen Ankara habe er das Gefühl gehabt, dass ihn der Beamte besonders kritisch mustere, erinnert sich Özdamar. Schließlich habe der Beamte ihn angewiesen, sich bei der Wache neben der Passkontrolle zu melden. Als Özdamar sich dort an einen Polizisten wendet, wird ihm offenbart: Bereits seit März 2022 läuft ein türkisches Ermittlungsverfahren gegen ihn. Es liegt zudem ein Haftbefehl gegen ihn vor. Der Haftbefehl liegt dem WDR vor, er wurde im November 2022 ausgestellt. Begründet wird er damit, dass Özdamar trotz Aufruf nicht bei der Staatsanwaltschaft erschienen sei und nicht erreicht habe werden können. Der Redakteur betont, er habe bereits seit vielen Jahren keine Meldeadresse mehr in der Türkei.
Özdamar erzählt, ein weiterer Polizist, der in Zivil die Wache betreten hat, habe ihn sofort geduzt und in unhöflichem Ton zu ihm gesagt: "Du hast Personen, die bei der Terror-Bekämpfung aktiv sind, zur Zielscheibe gemacht". Es gehe dabei um Tweets aus dem Jahr 2018 – ob er sich erinnere, was er gepostet hat. Özdamar betont, er habe in keiner Weise gewusst, welche Äußerungen gemeint sein sollten. "Du bleibst heute in Gewahrsam", habe ihm der Polizist dann gesagt. Mindestens für eine Nacht, wird Özdamar klar, muss er in eine Zelle. Und die Vergangenheit hat gezeigt: Untersuchungshaft, das kann in der Türkei mehrere Jahre dauern.
Glücklicherweise endete die Inhaftierung für den Redakteur nach einigen Stunden, er konnte die Türkei nach ein paar Tagen wieder Richtung Deutschland verlassen. Das Ermittlungsverfahren gegen ihn besteht aber weiterhin. Und Recherchen von WDR COSMO zeigen: Festgenommen wurde Tuncay Özdamar mutmaßlich aus geradezu grotesken Gründen. Seine Ermittlungsakte lässt für den Zustand der türkischen Justiz Schlimmstes vermuten.
Was hat die Personalpolitik einer Zeitung mit Terror zu tun?
Mittlerweile wird Tuncay Özdamar vom Istanbuler Menschenrechtsanwalt Veysel Ok vertreten. Dieser hatte in der Vergangenheit beispielsweise den "Welt“-Journalisten Deniz Yücel verteidigt. Yücel wurde im Februar 2017 in der Türkei aufgrund von Vorwürfen der Terror-Propaganda festgenommen und kam erst ein Jahr später frei – ohne dass zu diesem Zeitpunkt eine Anklageschrift existierte. Über Veysel Ok konnte der WDR Unterlagen aus der türkischen Ermittlungsakte zu Tuncay Özdamar einsehen.
Dort sind Screenshots enthalten zu den zwei Tweets vom 9. September 2018, welche der türkische Staat dem WDR-Redakteur vorwirft. Im ersten Tweet berichtet Özdamar über personelle Veränderungen bei der türkischen Tageszeitung "Cumhuriyet", die als "eine der letzten Bastionen der Pressefreiheit in der Türkei" gelte, so Özdamar. Da der neuen Chefetage der Zeitung "Nähe zum Staat und Erdoğan" vorgeworfen werde, hätten "reihenweise" Journalisten die Zeitung verlassen oder seien entlassen worden. Im zweiten Tweet zählt Özdamar Namen von Journalisten und Journalistinnen auf, welche die Zeitung verlassen haben sollen, und integriert Screenshots von Tweets anderer Personen zu diesen Entwicklungen. Beide Tweets sind auf Deutsch verfasst.
Wenn man möchte, kann man die Tweets als Kritik am Zustand der Pressefreiheit in der Türkei verstehen. Aber der Vorwurf, "eine Person, die bei der Terror-Bekämpfung aktiv ist, zur Zielscheibe gemacht" zu haben – wie soll das mit diesen Tweets zusammenhängen? Hier wird ein weiterer Screenshot relevant. Dazu später mehr.
Als Özdamar vor zwei Monaten zu einer Polizeiwache in der Nähe des Flughafens Ankara gebracht wird, weiß er noch nicht, welche Tweets ihm konkret vorgeworfen werden. Auf der Wache angekommen, muss der WDR-Redakteur seine Wertsachen abgeben. Dann wird er in eine Zelle gesperrt. Er erinnert sich:
Was ihn ein wenig beruhigt: Noch am Flughafen konnte er den WDR über die Festnahme informieren. Zudem hatte Özdamar dort kurz seine Schwester treffen können, welche ihn abholen wollte – diese alarmiert seinen Neffen, einen Juristen.
Die Tweets wurden wohl nicht übersetzt
Özdamar findet in der Zelle nur kurz Schlaf. Um 9 Uhr morgens betritt sein Neffe die Zelle. Özdamar kann sich kurz mit dem Juristen austauschen – dann wird er in ein Gerichtsgebäude der Stadt Çubuk bei Ankara gebracht. Stundenlang habe er auf die Anhörung warten müssen, sagt er. Sein Neffe stößt dazu, um 16 Uhr beginnt schließlich die Videoanhörung mit einem Staatsanwalt, der aus Istanbul zugeschaltet wird. Der Staatsanwalt liest die ersten Worte der genannten Tweets vor. Laut Özdamar trägt er aber nicht den gesamten Inhalt vor – der Jurist habe auch nicht den Eindruck erweckt, Deutsch zu verstehen.
Die Ermittlungen gegen Özdamar haben bereits im März 2022 begonnen, dies zeigen Ermittlungsunterlagen. Doch erst am 2. Oktober 2023 – mehr als eineinhalb Jahre nach Beginn des Ermittlungsverfahrens und erst zwei Tage nach seiner Festnahme – fordert das "Ermittlungsbüro für Terrorismus und Organisierte Kriminalität" der Istanbuler Staatsanwaltschaft bei der Istanbuler Regionalpolizei eine Übersetzung von Deutsch ins Türkische an. Özdamars Anwalt Veysel Ok berichtet, dass auch jetzt, fast zwei Monate nach der Festnahme, keine Übersetzung der Tweets in der Akte vorliege.
Bei dem Verhör in Çubuk erklärt Özdamar, dass es als Journalist seine Aufgabe sei, auch kritisch auf Entwicklungen in der Türkei und Deutschland zu schauen. Er verneint aber, dass er in irgendeiner Form Personen die im türkischen Anti-Terror-Kampf involviert sind zur Zielscheibe gemacht habe. Die Vernehmung dauert etwa eine halbe Stunde. Dann erklärt der Staatsanwalt: Der Haftbefehl wird aufgehoben. Özdamar kann das Gerichtsgebäude verlassen und endlich zu seiner Familie gehen. Allerdings sei ihm nicht erläutert worden, wie es mit seinem Ermittlungsverfahren weitergeht. "Als ich dann eine Woche später am Flughafen Ankara auf meinen Rückflug nach Deutschland gewartet habe, hatte ich ein enorm mulmiges Gefühl", erzählt er. Doch er kann die Türkei verlassen und landet in Deutschland.
Özdamar entscheidet sich, das Vorgehen des türkischen Staates nicht einfach hinzunehmen – sondern will mit dem Rechtsanwalt Veysel Ok erreichen, dass das Ermittlungsverfahren gegen ihn, das nach Angaben des Anwalts weiterhin andauert, eingestellt wird. Und er will ergründen, wieso es überhaupt eröffnet wurde. Recherchen von WDR COSMO legen dabei nahe: Özdamar ist anscheinend Opfer eines haarsträubenden Irrtums geworden.
Eine zu schlampige Suche?
Anfang 2022 hat die Staatsanwaltschaft Istanbul Ermittlungen gegen Personen aufgenommen, die den damaligen Präsidenten des "İstanbul 24. Ağır Ceza Mahkemesi" ("24. Hoher Strafgerichtshof Istanbuls") beleidigt bzw. "zur Zielscheibe gemacht" haben sollen. Mehrere entsprechende Social-Media-Posts waren getätigt worden. Der Name des damaligen Präsidenten: Murat Erten.
Hier wird ein Screenshot in Özdamars Ermittlungsakte relevant. Zu sehen ist eine Twitter-Timeline, im Zentrum dabei der Tweet eines Users namens "Edirne1979LND". Dieser hat das Foto eines Mannes im Anzug gepostet, dazu die Worte "Murat erten, soytarisi. Vicdaniz satilik saray kopegi…" Auf Deutsch: "Murat Erten, sein Clown. Ein gewissensloser Palasthund zu verkaufen…" [Anm. d. Red.: Es ist davon auszugehen, dass der User "vicdansiz" (gewissenlos) statt "vicdaniz" schreiben wollte].
Die Worte "Murat Erten" sind dabei gefettet, die Person, die den Screenshot getätigt hat – vermutlich ein türkischer Polizist oder eine Polizistin – hat also nach diesen Worten auf Twitter gesucht. Unter diesem Tweet findet sich in der Timeline - beim Screenshot so abgeschnitten, dass man nur den oberen Teil sieht - jener Tweet von Tuncay Özdamar, der die Namen von Journalisten aufzählt, welche die Zeitung "Cumhuriyet" verlassen haben sollen. Beim ersten Namen, "Murat Sabuncu", ist "Murat" gefettet. Ein Blick auf den kompletten Tweet zeigt: Auf "Murat Sabuncu" folgt, nach elf weiteren Namen, "Bağiş Erten". Auch in Özdamars Tweet lassen sich also die Worte "Murat" und "Erten" finden – wenngleich sich der Tweet in keiner Weise auf den Istanbuler Richter bezieht und dessen Name nicht zusammenhängend genannt wird.
Das muss man sacken lassen. Was Tuncay Özdamar vermutlich widerfahren ist, ist so, als würde in Deutschland jemand auf Französisch tweeten: "Heute habe ich mit Olaf Müller ein Bier auf der Ludwig-Scholz-Brücke getrunken" - und dann startet das BKA ein Ermittlungsverfahren (ohne dass der Tweet je übersetzt wird), stellt einen Haftbefehl gegen diese Person aus und lässt sie festnehmen, weil in dem Tweet die Worte "Olaf" und "Scholz" vorkommen und in manchen Ecken des Internets Menschen böse Sachen über den Bundeskanzler schreiben. Dass es um den Rechtsstaat in der Türkei nicht gut steht, ist bekannt. Aber so ein Vorgehen wäre, wenn sich der Verdacht bestätigt, ein neues Level an Willkür.
"Es wäre zum Lachen, wenn es nicht so tragisch wäre", sagt Özdamars Rechtsanwalt Veysel Ok. Er habe den Eindruck, dass viele türkische Polizisten nichts anderes mehr tun würden, als Social Media nach "verdächtigen" Inhalten zu durchforsten – und er glaubt, dass eine mutmaßlich schlampige Ermittlung wie bei Tuncay Özdamar auch viele andere Personen in der Türkei betreffen kann.
Der WDR hat der Staatsanwaltschaft in Istanbul, welche das Ermittlungsverfahren gegen Özdamar führt, Fragen zu den vorliegenden Unterlagen geschickt. Zudem wurde über mehrere Stellen im türkischen Justizsystem sowie über Stellen des türkischen Außenministeriums versucht, Kontakt mit dem in den Ermittlungsunterlagen spezifisch genannten Staatsanwalt aufzunehmen. Bis zum Redaktionsschluss lagen keine Antworten auf unsere Fragen zum Verfahren vor. Insbesondere wollten wir wissen, inwiefern es zutrifft, dass Özdamar in das Visier der Behörden geraten ist, weil Ermittler einfach Twitter nach den Worten "Murat" und "Erten" durchsucht haben – die Ermittlungsunterlagen lassen dies stark vermuten. Sollten uns noch Antworten türkischer Behörden erreichen, aktualisieren wir die Berichterstattung entsprechend.
Das Auswärtige Amt warnt explizit
Unabhängig vom Fall Özdamar gilt: Schon seit langem kritisieren Menschenrechtler und Organisationen, die sich für Presse- und Meinungsfreiheit einsetzen, dass der türkische Staat juristische Vorwürfe, insbesondere nach Anti-Terror-Gesetzen, benutze, um unliebsame Personen mundtot zu machen. Dies kann auch deutsche Staatsbürger betreffen, siehe das Beispiel Deniz Yücel. Oder Adil Demirci: Der Kölner Sozialarbeiter wurde im April 2018 verhaftet, kam erst nach zehn Monaten Untersuchungshaft frei und durfte erst im Sommer 2019 das Land verlassen. Ihm wurde die Mitgliedschaft in einer verbotenen linksextremen Partei vorgeworfen.
Das Auswärtige Amt warnt explizit:
Angesichts der WDR-COSMO-Recherchen muss man feststellen: Die Warnungen des Auswärtigen Amtes erscheinen nicht übertrieben. Im Fall Tuncay Özdamar lässt sich spekulieren, dass ihm besonders zum Verhängnis wurde, dass über ihm der Tweet des Users "Edirne1979LND" in der Such-Timeline zu finden war. Dieser Twitter-Account (und damit auch die dazugehörigen Tweets) sind mittlerweile gelöscht, doch über ein Internet-Archiv lässt sich nachvollziehen: Der User ist oder war, dem Profil nach zu urteilen, ein Anhänger der Gülen-Bewegung. Diese wird in der Türkei mittlerweile als terroristische Organisation behandelt und für den Putsch-Versuch vom Juli 2016 verantwortlich gemacht. Im Profil des Users steht "#hizmet" – "Hizmet", also "Dienst", ist der Name mit dem Anhänger von Fethullah Gülen ihre Bewegung bezeichnen. Zudem steht dort: "Die Hälfte des Juli, die Hälfte meines Herzens" – das kann als Verweis auf den 15. Juli 2016 gesehen werden, der Tag, an dem der Putschversuch in der Türkei begann.
Den Tweet, in dem der Richter Murat Erten als "Clown" und "Palasthund" bezeichnet wird, schickte "Edirne1979LND" übrigens am 5. März 2022 ab, nur vier Stunden später wurde dann wohl von Ermittlern der Timeline-Screenshot mit den Suchwörtern "Murat" und "Erten" erstellt. Da war es schon mehr als dreieinhalb Jahre her, dass sich Tuncay Özdamar zum "Cumhuriyet"-Personal geäußert hatte. Özdamar betont, dass er keinerlei Beziehung zum User "Edirne1979LND" habe und diesem auch nie auf Twitter gefolgt sei.
Wie kommt die Liebesroman-Autorin ins Spiel?
Außerdem bemerkenswert: An einer Stelle der Ermittlungsakte wird Tuncay Özdamar ein Twitteraccount mit einem Frauennamen zugeordnet – der Name ist dem WDR bekannt, da er sich aber mit dem reellen Namen der Person deckt und wir nicht beurteilen können, inwiefern die Berichterstattung ihr in der Türkei schaden könnte, soll sie hier einfach "Sibel Korkmaz" heißen. Sibel Korkmaz arbeitet an einer Universität und lebt im Norden der Türkei. Sie schreibt Romane – beispielsweise über die Liebesgeschichte eines Paares zwischen der Türkei und Georgien. Mit mehr als 150.000 Followern hat sie auf Twitter eine durchaus relevante Präsenz, allerdings schreibt sie eher poetische Zeilen als politische Aufforderungen. "Wer hat gezählt, wie viele Wellen durch das Meer in mir gezogen sind?", postet sie zum Beispiel vor einem halben Jahr. Was der türkische Staat Frau Korkmaz vorwirft, ob denn überhaupt gegen sie ermittelt wird, wird durch die Unterlagen, die der WDR einsehen konnte, nicht deutlich. Özdamar bekräftigt, diese Frau nicht zu kennen und ihr nie auf Twitter gefolgt zu sein.
Ein weiterer Punkt, der irritiert: In einem Dokument der Akte, das mit "Untersuchungsergebnis" bzw. "Bewertungsergebnis" betitelt ist, werden mehrere Personen aufgezählt, welchen die türkischen Behörden schwere Straftaten zur Last legen – darunter auch Terror-Vorwürfe. Abgetrennt, in einem neuen Absatz, werden dann Tuncay Özdamar und "Sibel Korkmaz" erwähnt – und betont, dass für beide keine Einträge zu Vorstrafen vorliegen. Dann weist der nur als "Polizeibeamter" bzw. "-beamtin" bezeichnete Verfasser umfassend auf Fallstricke bei der Social-Media-Recherche hin. Beispielsweise erwähnt er, dass die Social-Media-Profile die untersucht wurden "Fake-Profile sein können, die mit persönlichen Informationen und Fotos der betroffenen Person erstellt wurden, ohne dass diese davon wussten." Zudem könnten auch Posts gelöscht werden oder ein Soziales Netzwerk Accounts schließen. Was jedoch an keiner Stelle in den Ermittlungsunterlagen die dem WDR vorliegen erwähnt wird: Inwiefern Tuncay Özdamar und "Sibel Korkmaz" bzw. ihre Social-Media-Accounts überhaupt mit den als Schwerverbrechern eingestuften Personen in Verbindung stehen sollen.
Reporter hinter Gittern
Offen bleibt auch, inwiefern die Ermittlungen gegen Özdamar mit seiner Arbeit als Journalist zusammenhängen. Dass Journalisten in der Türkei juristische Probleme kriegen, ist nichts Ungewöhnliches: Es gebe derzeit mindestens sieben Journalisten, die für ihre Arbeit in türkischen Gefängnissen sitzen, sagt Erol Önderoglu, der türkische Vertreter für "Reporter ohne Grenzen" (RSF). Seit Beginn des Jahres seien mindestens zwölf Journalisten zu Geld- oder Haftstrafen verurteilt worden. [Anm. d. Red.: Bei Erscheinen dieses Artikels am 29. November ging der WDR aufgrund von RSF-Angaben noch von mindestens zehn Journalisten aus, die für ihre Arbeit in türkischen Gefängnissen sitzen, sowie von mindestens elf Journalisten, die seit Beginn des Jahres 2023 zu einer Geld- oder Haftstrafe verurteilt wurden. Am 30. November konnten wir über Erol Önderoglu aktualisierte Zahlen erfragen, daher haben wir den Artikel entsprechend angepasst.]
Zum Stichtag 1. Dezember 2022, so berichtet es das "Committee to Protect Journalists", hätten noch 40 Reporter in türkischen Gefängnissen gesessen.
Im Ranking der Pressefreiheit von RSF liegt die Türkei auf Rang 165 von 180 Staaten und Gebieten - das ist noch hinter Ländern wie Libyen oder Afghanistan.
Önderoglu sagt, er wisse aktuell von keinem Journalisten mit deutscher Staatsbürgerschaft in türkischen Gefängnissen. Aber es gebe Hinweise auf zwei Medienschaffende aus Deutschland, die dieses Jahr nicht in die Türkei einreisen durften. RSF Deutschland teilt dem WDR mit, dass sie sich von der Bundesregierung wünschen, dass diese in Gesprächen mit der Türkei Einschränkungen der Presse- und Meinungsfreiheit offensiver anspricht. Beispielsweise "die jüngsten Einschränkungen der Pressefreiheit durch Mediengesetze, die Instrumentalisierung von Löschanfragen bei Internetplattformen und die Übergriffe aus der Türkei auf Exilreporterinnen und -reporter in Deutschland."
Bei dem Vorgehen der türkischen Ermittlungsbehörden im Fall Özdamar könnte es eine Rolle gespielt haben, dass dieser als Journalist immer wieder kritisch Entwicklungen in der Türkei betrachtet und eingeordnet hat – im WDR-Hörfunk ebenso wie im WDR-Fernsehen. Belegen lässt sich dies aber nicht.
Doch bei weitem nicht nur Reporterinnen und Reporter, Redakteurinnen und Redakteure können Probleme mit der türkischen Justiz bekommen. Aus dem Auswärtigen Amt heißt es auf WDR-Anfrage, dass derzeit etwa 120 Deutsche die Türkei nicht verlassen können. Rund 60 davon sind inhaftiert, 66 haben eine Ausreisesperre. Darüber, wie viele Personen ohne deutschen Pass die dauerhaft in Deutschland leben in der Türkei inhaftiert sind oder nicht ausreisen dürfen, habe man keine Zahlen. "Über Festnahmen von Personen ohne deutsche Staatsangehörigkeit werden die deutschen Auslandsvertretungen von den türkischen Stellen nicht informiert", so das Amt. Dazu, wie viele der in der Türkei festgehaltenen Deutschen als "politische Gefangene" betrachtet werden können, gibt es aus dem Auswärtigen Amt keine Antwort.
Terrorvorwürfe als politische Waffe?
Laut der Menschenrechtsorganisation Amnesty International werden insbesondere Straftatvorwürfe die unter Antiterrorgesetze fallen von türkischen Behörden genutzt, um gegen politisch unliebsame Personen vorzugehen. Die Organisation schreibt dem WDR auf Anfrage:
Die pro-kurdische Partei HDP, so Amnesty, berichte dass rund 6.000 ihrer Mitglieder derzeit in Haft säßen.
Auch der Straftatvorwurf gegen Tuncay Özdamar – er habe "eine Person die in der Terrorismusbekämpfung aktiv ist zur Zielscheibe" gemacht – fällt unter ein Antiterrorgesetz. Nach Informationen des WDR werden etwa einem Drittel der rund 120 Deutschen, die derzeit in der Türkei inhaftiert oder von einer Ausreisesperre betroffen sind, Straftaten unter Antiterrorgesetzen vorgeworfen.
Experten beschreiben dem WDR, dass einerseits Ermittlungen türkischer Behörden oft sehr langsam vorangehen – gleichzeitig aber schon in einem frühen Stadium "enorm invasive Maßnahmen" verhängt würden, beispielsweise Ausreisesperren. Die Namen und Tätigkeitsfelder der Experten werden hier nicht genannt, weil dies ihre Arbeit beeinträchtigen könnte.
In den Monaten nach dem gescheiterten Putschversuch vom Juli 2016 gab es in der der Türkei regelrechte Verhaftungswellen, die von Menschenrechtlern kritisiert wurden. Damals seien auch viele deutsche Staatsbürger von türkischen Ermittlungen betroffen gewesen, so die Experten. Mittlerweile sei die Lage, zumindest was deutsche Betroffene angeht, deutlich ruhiger.
Einer der Experten sagt jedoch: "Bei deutschen Staatsbürgern, gegen die türkische Behörden aufgrund von - aus deutscher Sicht zulässigen - Meinungsäußerungen ermitteln, sind Deutsche mit türkischen Wurzeln besonders stark betroffen". Angesprochen darauf, wie er den Fall Özdamar beurteilt, bei dem es so wirkt, als ob der WDR-Redakteur nur durch eine grobe Twitter-Suche ins Visier der Behörden gekommen ist, sagt einer der Experten: "Das scheint mir schon ein besonders krasser Fall zu sein“.
Für Tuncay Özdamar ist das nur ein schwacher Trost – zumal sein Anwalt Veysel Ok davon ausgeht, dass Ermittlungsakten vieler türkischer Bürger ähnlich aussehen könnten wie jene vom deutschen WDR-Redakteur. Özdamar ist überzeugt:
Er hofft, dass er mit seinem Antrag bei der Istanbuler Staatsanwaltschaft Erfolg hat und das Ermittlungsverfahren gegen ihn eingestellt wird. Aktuell steht für ihn aber fest: In die Türkei reisen, um seine kranke Mutter und den Rest seiner Familie zu besuchen, geht für eine ganze Weile nicht. Er könne sich dann nicht sicher fühlen.
Der WDR berichtet über dieses Thema unter anderem im Hörfunk bei COSMO