Autor im Gespräch

Tijan Sila über "Radio Sarajevo"

Stand: 20.10.2023, 12:29 Uhr

Eine Kindheit im Krieg. In seinem vierten, autobiografisch geprägten Buch erzählt der aus Bosnien kommende Autor kraftvoll, zuweilen auch drastisch von der Belagerung Sarajevos Anfang der 1990er Jahre - und von den seelischen Verwundungen, die die Gewalt in den Kindern hinterlässt.

Von einem Moment auf den anderen ist nichts mehr, wie es war. Eben noch liegt der 10jährige Sila bäuchlings auf dem Schlafzimmerteppich und hört David Bowie im Radio. Dann fallen Bomben auf seine Heimatstadt Sarajevo und aus einem normalen Familienalltag wird ein Leben im Ausnahmezustand.

Es gibt keine Kinos, keine Schwimmbäder, keine Schule mehr, bald auch kaum noch Essen und ohne Strom auch keine Musik aus dem Radio für den Ich-Erzähler. Schonungslos, zuweilen auch drastisch erzählt der aus Bosnien kommende Autor Tijan Sila in "Radio Sarajevo" von seinen Kindheitsjahren im Krieg. Es ist die Zeit der Jugoslawien-Konflikte.

Ab dem Frühjahr 1992 wird die bosnische Hauptstadt Sarajevo vier Jahre lang belagert. Die Lage ist unübersichtlich, Bosnier, Serben und diverse paramilitärische Gruppierungen sind an den Kämpfen beteiligt. Die komplexen politischen Verwicklungen deutet Sila nur an.

Ihm geht es um die seelischen Verwundungen, die die Brutalität der Ereignisse in den Kindern anrichtet. Die Überforderung, Vernachlässigung und allmähliche Verrohung, wenn aus einer Gruppe neugieriger, verspielter Jungs irgendwann Klebstoff schnüffelnde, vulgäre, gewaltbereite Teenager werden.

Einen "Roman" wollte Tijan Sila sein Buch nicht nennen. Zu nah sind die Schilderungen an seiner eigenen Kindheit. Und doch ist ihm mit seinem autofiktionalen Blick zurück auf das Kind, das er einmal war, grandiose Literatur gelungen: Pointiert und niemals pathetisch, ja manchmal sogar komisch erzählt er von den durch Ruinen streunenden Kinder, die dort in ausgebrannten Kiosken und auf Müllhalden nach Pornoheften suchen, um sie dann bei Blauhelmsoldaten gegen Gummibärchen und Schokolade zu tauschen. Oder gegen Batterien, um so doch noch aus einem kleinen roten Radio ab und zu Musik hören zu können - ein Trost in der Tristesse.

Zugleich skizziert Sila in kurzen, lebendigen Szenen auch ein Porträt der bosnischen Gesellschaft der 1990er Jahre: Die Korruption und mafiösen Strukturen. Die Intellektuellen-Feinseligkeit im Plattenbau-Milieu.

Der groteske Balkan-Machismo, der viele Väter prägt. Und die inkonsequente, unberechenbare Pädagogik zwischen Härte und Herzlichkeit. Irgendwann flieht Tijan Silas Familie nach Deutschland. Doch dem Krieg entkommen sie nicht. Er bleibt in ihren Köpfen und Erinnerungen.

Eine Rezension von Nicole Strecker

Literaturangaben:
Tijan Sila: Radio Sarajevo
Verlag Hanser Berlin, 2023
176 Seiten, 22 Euro