Aus Werbezwecken ein Flugzeug fliegen? Ohne eine einzige Flugstunde? Klingt verrückt. Hélène Dutrieu wagt es trotzdem und steigt im Dezember 1908 in den neuen, ultraleichten Flieger aus Bambus und Leinen. Der Flug endet - wen wundert's - mit einer Bruchlandung.
Es ist nicht der einzige Absturz, den Dutrieu überlebt, denn sie ist eine Frau der Extreme. Ob im Flugzeug, auf dem Fahrrad oder im Auto - die vielseitige Belgierin macht Dinge, die bis heute immer noch ungläubiges Staunen auslösen. Dutrieu stirbt am 27. Juni 1961 im Alter von 83 Jahren eines natürlichen Todes.
Radrennen statt Schule
Woher ihr Hang zu Geschwindigkeit und Abenteuer rührt, ist unklar. Sie kommt 1877 in Tournai an der Schelde auf die Welt. Der Vater ein belgischer Armeeoffizier, die Mutter eine Dame aus besserem Hause. Hélène ist eine gute Schülerin, doch ihre Kindheit endet früh. Als ihre Familie in finanzielle Schwierigkeiten gerät, verlässt sie mit 14 Jahren das Elternhaus, um zum Lebensunterhalt beizutragen.
Völlig unüblich für ein Mädchen ihrer Zeit, strebt Hélène nach dem Vorbild ihres Bruders eine Karriere als Rennrad-Profi an. Sie fährt gegen Frauen und Männer, gegen Zwei- und Dreiräder - und gewinnt fast immer. In den darauffolgenden Jahren wird Dutrieu Bahnrad-Weltmeisterin und verbessert Geschwindigkeits- und Ausdauerrekorde scheinbar nach Belieben. Kurz vor der Jahrhundertwende wird sie vom belgischen König Leopold II mit dem "Kreuz von St. André mit Diamanten" ausgezeichnet. Dutrieu ist jetzt 21 und ein absoluter Star.
Großes Aufsehen erregt ihre Zirkusnummer, bei der sie als "menschlicher Pfeil" auf dem Fahrrad mehrere Meter durch die Luft fliegt. Zwar muss Dutrieu ihre Karriere als Sensationsartistin nach einem Unfall schon bald wieder beenden, der Traum vom Fliegen aber bleibt.
Pionierin der Luftfahrt
Daran ändert auch ihre Bruchlandung nichts. Im Gegenteil: Die Belgierin beschließt, die Fliegerei von Grund auf zu lernen. Weil auch ihre nächsten Versuche scheitern, beendet ihr Fluglehrer die Ausbildung mit den Worten: "Aus Ihnen wird nie eine gute Pilotin" - ein Irrtum.
1910 erhält Dutrieu als erste belgische Frau ihre Fluglizenz und vollbringt anschließend etliche Pionierleistungen. So fliegt sie etwa als erste Frau mit einem Passagier und bleibt als erste Pilotin mehr als eine Stunde in der Luft. 1913 wird die respektvoll als "Falkenmädchen" bezeichnete Dutrieu zur Ritterin der französischen Ehrenlegion ernannt.
Im Ersten Weltkrieg fliegt sie Aufklärungsflüge für die Pariser Luftwache, später fährt sie einige Jahre einen Ambulanzwagen. Ihre Zeit als Pilotin geht zu Ende. Dutrieu heiratet stattdessen mit 45 Jahren einen französischen Verleger und führt dessen Geschäfte auch als Witwe weiter. In Erinnerung aber bleibt sie als Heldin der Lüfte.
Autor des Hörfunkbeitrags: Burkhard Hupe
Redaktion: Ronald Feisel
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