Die Massenerschießungen von Katyn im Jahr 1940 belasten das russisch-polnische Verhältnis bis in die Gegenwart. Deshalb gilt es als ein Signal der Aussöhnung, als im Februar 2010 der russische Ministerpräsident Wladimir Putin seinen polnischen Amtskollegen Donald Tusk zum ersten gemeinsamen Gedenken einlädt. Am 7. April 2010 reisen die beiden in das russische Dorf Katyn bei Smolensk. Dort hatte 70 Jahre zuvor der sowjetische Geheimdienst NKWD rund 25.000 polnische Kriegsgefangene und Intellektuelle während des Zweiten Weltkriegs per Genickschuss ermordet.
96 Todesopfer bei Absturz
Zur offiziellen Gedenkfeier in Katyn nicht eingeladen ist allerdings Polens Präsident Lech Kaczynski. Er ist seit 2005 im Amt und hat immer wieder für Spannungen in den russisch-polnischen Beziehungen gesorgt. Kaczynski will als "der höchste Repräsentant der Republik Polen" dennoch Präsenz in Katyn zeigen. Er macht sich am 10. April 2010, drei Tage nach dem Treffen von Putin und Tusk, ebenfalls auf den Weg. Das ist ein diplomatischer Drahtseilakt, denn streng genommen ist dies kein Staatsbesuch, sondern eine Privatreise. Mit ihm fliegen seine Frau Maria, ranghohe Offiziere, Politiker, Kirchenvertreter und Angehörige der Opfer. Zusammen mit acht Besatzungsmitgliedern sind insgesamt 96 Menschen an Bord der Präsidentenmaschine. Doch beim Landeanflug auf den Militärflughafen von Smolensk kommt es zu Komplikationen. Die Maschine zerschellt um 8.41 Uhr Mitteleuropäischer Zeit am Boden, niemand überlebt.
Als Tusk wenige Stunden nach dem Unglück vor die Medien tritt, ringt er nach Worten: "Ich möchte im Namen aller Polen mein tiefstes Beileid aussprechen für die Familie des tragisch verstorbenen Präsidenten, Herrn Lech Kaczynski." Die erbitterten Kämpfe zwischen dem liberalkonservativen Premierminister und dem verstorbenen nationalkonservativen Staatspräsidenten scheinen mit einem Mal vergessen. Sie hatten Polen in den vergangenen Wochen und Monaten tief gespalten. Nun verwandelt sich der Platz vor dem Präsidentenpalast innerhalb weniger Stunden in ein Meer von Blumen und Kerzen. Tausende versammeln sich, weinen, schweigen, beten. Die polnischen Zeitungen titeln später "Die zweite Tragödie von Katyn" und "Zum zweiten Mal verliert Polen seine Elite".
Beisetzung des Präsidentenpaars in Krakau
Auch in Russland legen Menschen Blumen vor der polnischen Botschaft nieder. Putin ordnet eine dreitätige Staatstrauer an, reist umgehend nach Smolensk und trifft dort erneut Tusk. Die Bilder der beiden Premierminister vor dem Wrack des abgestürzten Flugzeugs gehen um die Welt. Auch Lech Kaczynskis Zwillingsbruder Jaroslaw, der Amtsvorgänger von Tusk, reist sofort an den Unglücksort, bleibt aber im Hintergrund. Er will den Leichnam seines Bruders nach Hause mitnehmen. Putin besteht aber darauf, den toten polnischen Präsidenten zunächst nach Moskau zu bringen und dort militärisch zu ehren. Lech Kaczynski wird zusammen mit seiner Frau am 18. April 2010 in Krakau beigesetzt.
Derweil tauchen immer neue Verschwörungstheorien auf: Der Nebel, der den Piloten die Sicht nahm, sei künstlich hergestellt worden. Das Bodenpersonal habe das Flugzeug absichtlich in die Irre geleitet. An Bord der Maschine habe es Explosionen gegeben. Schuld dabei sollen immer die Russen sein. Belege für die Behauptungen fehlen jedoch.
Fehler auf beiden Seiten
Noch am Tag des Unglücks erklärt Putin, selbst für schnelle Aufklärung zu sorgen. Doch die Zusammenarbeit verläuft schleppend. Edmund Kilch, damals Polens Chef der staatlichen Untersuchungskommission für Flugunfälle, ist an den Untersuchungen des Zwischenstaatlichen Luftfahrtkomitees (MAK) beteiligt. Sein Fazit: Es war keine Verschwörung, sondern pure Schlamperei. "Nichts deutet daraufhin, dass dieser Absturz durch menschliches Einwirken bewusst herbeigeführt wurde. Doch der Umfang der Unzulänglichkeiten - sowohl auf polnischer als auch auf russischer Seite - war vollkommen inakzeptabel." So waren die Piloten für die schwierige Landung schlecht ausgebildet und die Landebahn im Nebel schlecht ausgeleuchtet.
Im Januar 2011 veröffentlicht das MAK einen Untersuchungsbericht - ohne Absprache mit seinen polnischen Partnern. Darin weisen die Russen der polnischen Besatzung die Alleinschuld zu. Einige Monate später erscheint der polnische Bericht, der Fehler auf beiden Seiten aufzeigt. Doch die rechtskonservativen Anhänger von Jaroslaw Kaczynski und seiner Partei "Recht und Gerechtigkeit" sprechen von der "Lüge von Smolensk". Bereits im Juli 2010 haben sie einen eigenen Parlamentsausschuss gegründet, der die wahren Ursachen ermitteln soll. Dieser Ausschuss tagt bis heute.
Stand: 10.04.2015
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