Stichtag

8. Juni 2010 - Nicolas Berggruen übernimmt Karstadt

Als Nicolas Berggruen im Frühjahr 2010 wie aus dem Nichts auftaucht und für die 120 insolventen Karstadthäuser ein Übernahmegebot abgibt, staunen nicht nur die 25.000 Mitarbeiter. Auch Politiker, Gewerkschaftler und die Medien sind - größtenteils freudig - überrascht. Der Deutsch-Amerikaner punktet mit Sätzen wie: "Wir wollen die Gesellschaft verstärken und vergrößern mit der Zeit. Sodass Karstadt wieder wie früher eins von den wichtigsten und stärksten deutschen Unternehmen ist."

Nach Jahren der Krise wirkt Berggruen wie eine Verheißung: ein Milliardär, dem die Traditionsfirma ein persönliches Anliegen ist. Als die Karststadt-Gläubiger über einen neuen Investor abstimmen, macht Berggruen das Rennen. Am 8. Juni 2010 unterschreibt der smarte Investmentbanker den Kaufvertrag, die Belegschaft atmet auf. Berggruen ist ihr Mann – während die anderen Bieter Stellenstreichung verlangen, will er auf weitere Einschnitte für die gebeutelten Mitarbeiter verzichten. "Ich bin sehr optimistisch, dass wir hier etwas Gutes für Karstadt und am Ende auch für Deutschland machen", verspricht Berggruen.

Vom Millionär zum Milliardär

Geboren wird Nicolas Berggruen 1961 als Sohn des Kunstsammlers und Mäzens Heinz Berggruen, der 1936 aus Berlin in die USA emigriert. Der kleine Nicolas sitzt auf dem Schoß von Pablo Picasso, wächst in Frankreich und der Schweiz auf. Nach der Schule geht er 1979 nach New York, absolviert ein Wirtschaftsstudium und macht ein Vermögen an der Wall Street. Zuerst kauft er Aktien, dann ganze Unternehmen - vom Millionär zum Milliardär. Angeblich ist ihm sein Reichtum nicht wichtig. "Was ich besitze, ist zeitlich begrenzt", erklärt der smarte Weltenbummler in Interviews. Seine Häuser hat er vor Jahren schon verkauft, er führt ein Leben per Mobiltelefon, lebt in sehr teuren Hotels.

"Er ist ein Menschenfänger. Es ist jemand, der einem gegenübersitzt mit einem leicht jungenhaften Gesichtsausdruck, der nicht aufgeregt, der engagiert ist und zuhört", beschreibt Wirtschaftsjournalist Oliver Stock den Investor nach einem Treffen. Berggruen gibt sich als das Gegenteil der gewissenlosen Heuschrecke. "Der Name Berggruen verpflichtet. Nicht nur kulturell, sondern auch sozial", erklärt er ruhig, fast schüchtern. Keine Entlassungen und persönlicher finanzieller Einsatz für Karstadt – das wollen im Sommer 2010 fast alle glauben.

Aus der Krise in die Krise

Für den Neustart verzichten die Mitarbeiter auf Urlaubs- und Weihnachtsgeld, Städte erlassen Gewerbesteuer und Gläubiger streichen Schulden. Doch die Hoffnungen werden schnell enttäuscht. Nach dem Kauf schwindet Berggruens Interesse an den Problemen des Warenhauses spürbar, er überlässt die Geschäftsführung anderen - mit weitreichenden Folgen. Das von ihm eingesetzte Management macht viele Fehler: Neue Marken, die keiner kennt, vergraulte Stammkunden und ständiger Strategiewechsel. Karstadt schreibt weiter Verluste.

Auf die Schecks des Milliardärs hoffen die Mitarbeiter vergebens. Was Karstadt an Geld für die Modernisierung der veralteten Filialen braucht, muss das Unternehmen selbst erwirtschaften. Auch auf Kosten der Mitarbeiter: Das Management streicht 2.000 Stellen, die Beschäftigten sollen jahrelang auf Tariferhöhungen verzichten. Drei Jahre nach der Übernahme fühlt sich Verdi-Gewerkschaftler Arno Peukes von Berggruen betrogen: "Im Kern ist er auch nix anderes als jemand, der nur seinen Gewinn macht."

Schließlich bricht Berggruen ein weiteres Tabu und zerschlägt Karstadt: Drei lukrative Edel-Filialen und die 28 Sporthäuser werden mehrheitlich verkauft. Es ist der Beginn seines Abschieds. Der als Weißer Ritter gepriesene Unternehmensretter agiert wie eine klassische Heuschrecke, allein die Rendite zählt. Mitte August 2014, nur vier Jahre nach der umjubelten Verbindung, folgt die Scheidung des einstigen Traumpaars: Berggruen verkauft Karstadt an den österreichischen Immobilieninvestor René Benko.

Stand: 08.06.2015

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