Eine Woche nach dem unbeschwerten Volksfest "Still-Leben Ruhrschnellweg" lockt das Kulturhauptstadtjahr Ruhr 2010 mit dem nächsten Top-Ereignis. Am 24. Juli strömen hunderttausende junge Menschen zur Loveparade in Duisburg, wollen zu wummernden Bässen tanzen und feiern. Von den meisten Techno-Fans unbemerkt kommt es zur Katastrophe: Am Zugang zum Partyareal entsteht ein grauenhaftes Gedränge, das für 21 Besucher zur Todesfalle wird. Mehr als 500 Menschen erleiden teils schwere Verletzungen, unzählige tragen psychische Schäden davon.
1989 war die Loveparade in Berlin mit gerade 150 Teilnehmern geboren worden. Bis 2006 entwickelte sie sich zum Massenspektakel und Marketing-Event für bis zu 1,5 Millionen Raver. Nach Problemen mit der Bundeshauptstadt verlegt Geschäftsführer Rainer Schaller die Loveparade ins Ruhrgebiet. 2007 ziehen die "Floats", die Karawane der Musik-Trucks, durch Essen; im folgenden Jahr rollen sie über die B1 in Dortmund. 2009 soll die Loveparade in Bochum gastieren, doch die Stadt sieht sich vor unlösbaren Sicherheitsproblemen und sagt die Veranstaltung ab.
"Eine richtige Metropole kann das stemmen"
In Duisburg plagen die Organisatoren keine Sicherheitsbedenken – obwohl die Loveparade 2010 erstmals auf einem umzäunten Gelände stattfinden soll. Monatelang sucht man nach einem geeigneten Veranstaltungsort. Die Wahl fällt schließlich auf das Areal des alten Duisburger Güterbahnhof, das nach groben Schätzungen 250.000 Menschen Platz bietet. Zu erreichen ist das zwischen Gleisanlagen und Autobahn eingequetschte Gelände nur durch einen Tunnel, der in eine Rampe mündet und gleichzeitig als Zu- und Ausgang dienen soll. Kritiker des Konzepts wie Polizeipräsident Rolf Cebin werden politisch unter Druck gesetzt oder kaltgestellt.
Eisern folgen Oberbürgermeister Adolf Sauerland (CDU) und Ordnungsdezernent Wolfgang Rabe dem Auftrag von Ministerpräsident Jürgen Rüttgers (CDU), dass die Loveparade stattfinden soll. Im Kulturhauptstadtjahr will man sich keine Blöße geben. "Man muss den Willen bekunden, die Loveparade durchzuführen, statt klein beizugeben. Eine richtige Metropole kann das stemmen", so der künstlerische Leiter der Ruhr 2010, Dieter Gorny. Noch einen Monat vor dem Ereignis aber weigert sich die Duisburger Bauaufsicht wegen lückenhafter Sicherheitspläne, ihre Genehmigung zu erteilen. Die Polizei dagegen gibt keine Bedenken zu Protokoll. Erst am 21. Juli genehmigt OB Sauerland die Loveparade, obwohl rechtlich vorgeschriebene Unterlagen noch immer fehlen.
Nur moralisch verantwortlich
An jenem verhängnisvollen Samstag drängen sich nach Polizeischätzungen rund 350.000 Raver auf dem Gelände. Durch mangelhafte Absprachen zwischen Polizei und Ordnungskräften gelangen immer mehr Menschen hinein. So bildet sich am Nachmittag ein gefährlicher Stau auf der Rampe, die vom Tunnel zu den "Floats" führt. Pro Quadratmeter werden fünf Menschen zusammengepresst. Niemand kann mehr hinein oder heraus; in dem dichten Gedränge bricht Panik aus. Während einige über eine Treppe entkommen oder einen Lichtmast erklettern können, verlieren viele das Bewusstsein und werden niedergetrampelt. 21 junge Loveparade-Besucher bezahlen das Sicherheitschaos mit ihrem Leben. Erst nach rund einer Stunde werden die Menschenmassen weniger.
Auf der Suche nach den Verantwortlichen für die Katastrophe schieben sich die Beteiligten gegenseitig die Schuld zu. Oberbürgermeister Sauerland erklärt im WDR: "Die Ursachen liegen nicht am Sicherheitskonzept, was nicht gegriffen hat, sondern wahrscheinlich an individuellen Schwächen." Nach einem Jahr bekennt er sich wie der Veranstalter Schaller zumindest zu einer moralischen Verantwortung. Juristische Schuld sei beiden aber nicht nachzuweisen, befindet die Staatsanwaltschaft. Nach dreieinhalb Jahren Ermittlungsarbeit kommen die Strafverfolger Anfang 2014 in einer 556 Seiten dicken Anklageschrift zu dem Schluss: Die Loveparade hätte nie genehmigt werden dürfen. Zehn Mitarbeiter der Stadt und des Veranstalters müssen sich deshalb vor Gericht verantworten. Doch wann das Mammutverfahren eröffnet werden kann, ist auch am fünften Jahrestag der Katastrophe unklar. Noch immer prüfen die Richter, ob die Beweislage stichhaltig genug ist, um die Klage überhaupt zuzulassen.
Stand: 24.07.2015
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