Um ganz unten zu sein, braucht Günter Wallraff ein Toupet. Jeden Morgen setzt sich der Kölner Autor ein schwarzes Haarteil auf den Kopf und dunkle Kontaktlinsen in die Augen. Gemeinsam mit einem echten Schnauzbart machen Maskenbildner aus Wallraff den Türken Ali Levent, der mit gebrochenem Deutsch bei verschiedenen deutschen Firmen anheuert. Um zu erfahren, wie es sich anfühlt, als "Gastarbeiter" auf einem menschenverachtenden Arbeitsmarkt tätig zu sein.
"Ich war nicht wirklich ein Türke", schreibt Wallraff später. "Aber man muss sich verkleiden, um die Gesellschaft zu demaskieren, muss täuschen und sich verstellen, um die Wahrheit herauszufinden."
Schlaflos bei Thyssen
Zwei Jahre lang schreibt Wallraff auf, was er erlebt, zum Beispiel, wie er bei McDonald's die Tische mit dem Klolappen wischen und die Toilette mit einem Grillschaber säubern muss. Oder wie er bei Medikamentenversuchen großer Konzerne seine Gesundheit riskiert. "Seitlich auf dem Boden liegend kriechen wir in den Eingeweiden der Maschine 'rum", heißt es in seinem Buch "Ganz unten", das am 21. Oktober 1985 erscheint. "Der Lärm der donnernden Pressluftgeräte dröhnt in den engen Stahlgängen schmerzhaft in den Ohren. So was wie Gehörschutz ist unbekannt. Die Augen brennen, und alle rotzen, husten und röcheln um die Wette. Es ist die Hölle."
Als "Drecksarbeiter" wird Wallraff beschimpft, in Kneipen bekommt er als Türke nichts zu trinken. Im Auftrag einer Leiharbeiterfirma wird er genötigt, für einen Hungerlohn in der Duisburger August-Thyssen-Hütte, deren Belegschaft gerade abgebaut wird, für zehn D-Mark Stundenlohn in Zwölf-Stunden-Schichten zu malochen. Was Wallraff bleibt, sind massive Rückenprobleme und eine chronische Bronchitis. In einer Arbeitswelt, in dem 200.000 Illegale beschäftigt sind, kassieren andere die satten Provisionen.
4.000 Verfahren
Als "Ganz unten" erscheint, ist Wallraff durch seine Undercover-Tätigkeiten bei der "Bild"-Zeitung und im Gerling-Konzern bereits ein bekannter Autor. Seine Reportagesammlung aber katapultiert ihn in den Bestsellerlisten endgültig nach ganz oben. Insgesamt wandern vier Millionen deutschsprachige Exemplare über den Ladentisch, in 38 Sprachen wird Wallraffs Anklage übersetzt. Viele Türken lernen mit dem Buch deutsch. Bis heute ist "Ganz unten" das erfolgreichste deutschsprachige Sachbuch überhaupt. Ein Zusammenschnitt von heimlich mit der Aktentaschenkamera aufgenommenen Szenen kommt ebenfalls 1985 in die Kinos.
Politisch löst "Ganz unten" einen der größten Wirtschaftsskandale in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland aus. Es gibt Razzien in Konzernen und Verleihfirmen, das Landesarbeitsamt bildet die Sonderkommission "Ali-Gruppe". 4.000 Verfahren werden eröffnet, Unternehmen zu Millionenstrafen verdonnert. Gesellschaftlich entdecken viele Deutsche ihr schlechtes Gewissen. Und erkennen, dass die "Gastarbeiter" längst zum Land gehören. An der Schwarzarbeit sind im öffentlichen Bewusstsein fortan nicht mehr "die Türken" schuld, sondern die wahren Profiteure.
Stand: 21.10.2015
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