Stichtag

6. Dezember 1735 - Erste dokumentierte Appendix-OP gelungen

Starker Unterbauchschmerz, Übelkeit, Probleme beim Stuhlgang, Fieber – wer mit solchen Symptomen zum Arzt geht, hört meist die Diagnose "Verdacht auf Appendizitis", im Volksmund Blinddarmentzündung genannt. Betroffen ist dann allerdings nicht der gesamte Blinddarm, sondern die "Appendix vermiforis", ein etwa fingerlanger Wurmfortsatz am Ende des Darms.

Platzt ein entzündeter Wurmfortsatz und Bakterien breiten sich im Bauchraum aus, dann besteht Lebensgefahr. Bis in die 1980er Jahre landen vermeintliche Appendix-Patienten hierzulande deshalb schnell auf dem Operationstisch. "Das Ding muss raus, vorsichtshalber", lautet die Devise der Chirurgen, selbst wenn sich herausstellt, dass der Wurmfortsatz gar nicht entzündet ist.

Stecknadel verschluckt

Als Erster hat wohl Leonardo da Vinci um 1500 die Anatomie des Darms gezeichnet. Auf einer Skizze ist die Appendix, der Zipfel am Ende des Caecums (Blinddarm), gut zu erkennen. "Seitenkrankheit" nennen die Menschen zu Leonardos Zeit die heftigen Schmerzen im rechten Unterbauch. Viele sterben daran, bis die Ärzte begreifen, dass das von ihnen verordnete Rizinusöl nicht hilft. Doch erst am 6. Dezember 1735 gelingt dem Londoner Hofarzt Claudius Amyand die erste dokumentierte Entfernung einer entzündeten Appendix.

Der elfjährige Hanvil Anderson wird in akutem Zustand mit Verdacht auf einen vereiterten Leistenbruch ins St. George's Hospital eingeliefert. Amyand lässt dem Jungen sofort Opiumsaft zur Betäubung einflößen und greift zum Skalpell. Unter der Bauchdecke findet der Chirurg aber statt eines Leistenbruchs eine völlig entzündete, durchlöcherte Appendix – und als Ursache eine von Hanvil verschluckte Stecknadel. "Schneide gesamtes zerstörtes Darmstück weg", lässt Dr. Amyand im OP-Protokoll notieren und bewahrt seinen Patienten damit vor dem sicheren Tod. Während des Eingriffs durchleidet Hanvil zwar trotz des Opiums wahre Höllenschmerzen, aber er überlebt die Tortur. Einen Monat später kann der Knabe gesund nach Hause entlassen werden.

Blinddarm und Psyche

Seit Anfang des 19. Jahrhunderts entfernen Ärzte regelmäßig Wurmfortsätze. Die Appendizitis löst eine wahre Welle an Operationen aus, wobei die Diagnose zum größten Teil bei Frauen gestellt wird. Dabei, so erklärte der Frankfurter Chirurg Bernd Hontschick, "sind zu zwei Dritteln Männer von akuten Entzündungen betroffenen." Hontschik gehört seit langem zu den entschiedenen Gegnern einer "vorbeugenden" Entfernung auch nicht entzündeter Wurmfortsätze. Denn welchen Zweck der Darmzipfel erfüllt, darüber herrscht noch immer Unklarheit. Als gesichert gilt heute nur: Der Blinddarm, der über so viele Nervenzellen verfügt wie das Rückenmark, hat auf noch unbekannte Weise mit der psychischen Verfassung des Menschen zu tun.

Dem stimmt auch Hans-Peter Bruch, Präsident des Deutschen Chirurgen-Verbandes zu. Allerdings beurteilt Bruch das Blinddarmende als Experiment der Natur: "Bei bestimmten Menschen hat es die Evolution bereits ohne den geringsten Nachteil weggelassen." Für Appendix-Forscher Hontschik ist das schlicht "Quatsch". Der Wurmfortsatz tauche erst mit der Entstehung der Menschenaffen auf und sei daher "eine Hochentwicklung, etwas Neues in der Entwicklungsgeschichte, nicht etwas Verkümmertes." Vielleicht sind Darm-Experten im US-Bundesstaat North Carolina auf der richtigen Spur. 2007 führt sie ein Forschungsprojekt zu einer viel beachteten Schlussfolgerung. Die als Risikofaktor angesehene Appendix könnte ein unterschätzter Teil unseres Immunsystems sein. Wie ein Depot speichert sie Mikroben für den Fall, dass die lebenswichtigen Bakterien im Darm bei einer Erkrankung versagen.

Stand: 06.12.2015

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