Das bundesdeutsche Bildungssystem der 1960er Jahre schwächelt bedrohlich. Forschung und Industrie brauchen dringend mehr sowie besser ausgebildete Ingenieure und Akademiker. Die internationale Konkurrenzfähigkeit von Wissenschaft und Wirtschaft am Ende der Adenauer-Ära ist ernstlich gefährdet.
In einer aufsehenerregenden Studie fordert der Pädagoge und Philosoph Georg Picht 1964 eine gründliche Reform des Bildungswesens mit wesentlich höheren Investitionen. Werde die Zahl der Abiturienten und Studenten nicht mindestens verdoppelt, macht Picht den Politikern klar, drohe eine Bildungskatastrophe, der unvermeidbar eine Wirtschaftskatastrophe folgt.
Sehenden Auges in die Bildungsmisere
Vier Jahre zuvor hat der neu gegründete Deutsche Bildungsrat bereits eine Reform der Schulgesetze angemahnt. Die Bund-Länder-Kommission fordert, die Zahl von Akademikern zu steigern und die aus dem Kaiserreich stammenden Ingenieursschulen den modernen Erfordernissen anzupassen. Unternommen wird allerdings wenig.
1964 dann bleibt Pichts schonungslose Analyse der Bildungsmisere nicht ohne politische Folgen. Etliche Reformen werden zügig umgesetzt: insgesamt ein Jahr mehr Schule, eine Fremdsprache für alle Schüler, Aufwertung berufsbildender Schulen sowie die Eröffnung eines neuen Hochschul-Zugangs. Am 17. März 1967 führen die Kultusminister der Bundesländer die Fachhochschulreife bei verkürzter Gymnasialzeit ein.
Abkehr von der Begabtenförderung
Den neuen Hochschultypus definieren die elf Unterzeichner als "gleichwertig aber andersartig". Er soll mehr Kindern der Mittel- und Unterschicht einen Universitätsabschluss ermöglichen und zugleich praktisch veranlagte Schüler für eine technisch-wissenschaftliche Ausbildung gewinnen. "Aufstieg durch Bildung" lautet die Reformformel, die wesentlich von NRW-Ministerpräsident Heinz Kühn und seinem späteren Wissenschaftsminister Johannes Rau (beide SPD) geprägt wird.
Mehr Chancengleichheit bedeutet Abkehr von einer reinen Begabtenförderung. "Der Bildungsrat sagt, die Frage der Begabung ist eine, die das Bildungssystem entscheidet", erklärt der Bildungsforscher Heinz-Elmar Tenorth das Konzept der Fachhochschule. "Die Kinder sind nicht begabt, sondern sie werden begabt. Wie viel wir haben, welche Chancen und Potenziale wir eröffnen, das hängt von den Leistungen der Schule ab."
Andersartig aber nicht gleichwertig
Als zweiter Grundpfeiler der Chancengleichheit nach der Fachhochschulreife wird 1971 das Bafög eingeführt. Durch das Bundesausbildungsförderungsgesetz vergibt der Staat nun ein rückzahlbares Stipendium an alle Studenten, unabhängig von deren Leistungen. "Mädchen und Katholiken aus bürgerlichen Schichten haben davon zuerst profitiert", sagt Tenorth. "Erst danach kamen auch die Kinder aus der Arbeiter- und Unterschicht." Insgesamt steigt in den 70er Jahren der Anteil an Arbeiterkindern von unter fünf Prozent auf 25 Prozent.
Bundesweit entsteht ein Netz von heute 214 Fach- und Gesamthochschulen; allein in NRW werden fünf Gesamthochschulen gebaut. Erwerben anfangs vor allem Ingenieure, Sozialpädagogen und Betriebswirte einen Abschluss, kommen später neue Studiengänge wie Pflegewissenschaften und Frühkindliche Bildung hinzu. Allem Reformeifer zum Trotz: Viele FH-Professoren und Absolventen sehen sich als Akademiker zweiter Klasse diskreditiert: andersartig aber nicht gleichwertig. Denn das Promotionsrecht der Universitäten hat man den Fachhochschulen vorenthalten.
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