Geschichten von Geistern sind so alt wie die Menschheit. In der Literatur kommen solche Spukgestalten allerdings selten vor – bis Sir Horace Walpole 1764 das Genre des Schauerromans erfindet, die Gothic Novel. Sein schmales Bändchen "Das Schloss von Otranto" gibt dem Irrationalen und Fantastischen endlich einen Platz in der Literatur.
Bei Horace Walpole, dem vierten Earl of Orford, klingt das so: "Eine schaurige Stille herrschte in diesen unterirdischen Regionen, außer dass dann und wann ein Windstoß die Türen erschütterte, deren Knarren in den rostigen Angeln durchs lange Irrgebäude der Finsternis widerhallte. … In einem dieser Momente glaubte [Isabella], einen Seufzer zu hören. Das Blut starrte ihr in den Adern."
Horace Walpole ist zart und verträumt
In der rationalen Zeit der Aufklärung ist "Das Schloss von Otranto" mit all seinen übernatürlichen Elementen eine Sensation. Selten kommt es vor, dass ein Autor eine ganze Gattung neu erfindet. Horace Walpole ist es gelungen. "Er hat etwas Neues erschaffen, das bis heute ein Literaturphänomen und beliebt geblieben ist: den Schauerroman", erklärt die Heidelberger Anglistin Kerstin Frank.
Horace Walpole, geboren am 24. September 1717, scheint nicht in sein Jahrhundert zu passen – und nicht zu seinem Vater Robert Walpole, der als Premierminister über 20 Jahre die britische Politik prägt. Robert Walpole tritt als selbstherrlicher, polternder Machtmensch auf, sein Sohn gilt dagegen als zart und verträumt. "Horace Walpole war ein körperlich schmächtiger, fragiler, sehr sensibler Mensch", sagt Kerstin Frank.
Der Vater veranstaltet auf seinem Landgut Jagdgesellschaften und Zechgelage; sein Sohn fühlt sich in diesem Lärm entsetzlich. "Stell dir nur vor, dass ich hier jeden Tag Menschen sehe, die Gebirge von Roastbeef essen", schreibt er.
Walpole baut bizarre, mittelalterliche Burg
Sein Vater verschafft Horace Walpole einen Sitz im Parlament, doch für die politische Karriere fehlt dem jungen Mann die Abgebrühtheit. Horace ist von Hauptberuf Gentleman.
Mit 30 Jahren kauft er ein kleines Landhaus an der Themse nahe Twickenham – Strawberry Hill – und baut es zu einer bizarren mittelalterlichen Burg um. Eine Art Disneyland des 18. Jahrhunderts entsteht, mit gipsernen Zinnen, aufgemalten Gewölben und Kulissen aus Pappmaché. "Vieles davon war sehr künstlich. Aber es war bewusst inszeniert. Es war ein Spiel", sagt Frank.
Bald wird Strawberry Hill von Besuchern überrannt und es wird Mode, Häuser im gotischen Stil zu bauen. Walpole hat in seiner Burg gelegentlich Alpträume. So erscheint ihm eines Nachts die riesenhafte Hand einer Ritterrüstung. Das Traumbild lässt ihn nicht mehr los. "Noch denselben Abend setzte ich mich nieder und begann zu schreiben, ohne im Mindesten zu wissen, was ich sagen oder berichten wollte", erinnert sich Walpole.
Geheimgänge, Verliese und Grüfte
In nur zwei Monaten entsteht "Das Schloss von Otranto", die abstruse Geschichte um den Tyrannen Manfred. Horace Walpole versammelt in seinem Werk alle Leitmotive des Schauergenres: Geheimgänge, Verliese, Grüfte, dazu seufzende Ahnenporträts, blutende Statuen und Scheintote. "Da wandte sich die Gestalt langsam um und ließ Frederic die fleischlosen Kieferknochen und die leeren Augenhöhlen eines Skeletts in einer Mönchskutte erblicken", heißt es im Buch.
"Das Schloss von Otranto" wird ein großer Erfolg und viele Autoren entwickeln das Genre weiter, zum Beispiel Ann Radcliffe mit "Udolphos Geheimisse" (1794) oder Matthew Lewis mit "Der Mönch" (1796). Dracula, Frankensteins Monster, Hannibal Lecter oder Lord Voldemort – als diese Figuren aus Büchern und Filmen haben ihren Ursprung in dem schmalen Bändchen des englischen Gentlemans Horace Walpole.
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"ZeitZeichen" auf WDR 5 (9.45 Uhr) und WDR 3 (17.45 Uhr) erinnert am 24. September 2017 ebenfalls an Horace Walpole. Auch das "ZeitZeichen" gibt es als Podcast.
Stichtag am 25.09.2017: Vor 20 Jahren: Reform des Kindschaftsrechtes (gemeinsames Sorgerecht)