Als Kitty Genovese am 13. März 1964 in den frühen Morgenstunden vom Parkplatz zu ihrem Appartement im New Yorker Stadtteil Queens eilt, bekommt sie ein Messer in den Rücken gerammt. Sie ruft um Hilfe. Lichter in dem Wohnblock sollen - so wird später berichtet - angehen, ein Bewohner ruft: "Lass das Mädchen in Ruhe".
Tatsächlich verschwindet der Täter Winston Moseley zunächst. Aber die Schwerverletzte bleibt sich selbst überlassen. Der brutale Familienvater kehrt zurück, vergewaltigt die 28-Jährige und sticht erneut zu. Kitty Genovese stirbt auf dem Weg ins Krankenhaus.
38 Zeugen und keiner greift ein?
Ein brutaler Mord, der dennoch zunächst nur einer von vielen in der Stadt ist. Erst zwei Wochen später berichtet die New York Times, dass 38 Personen Teile des Angriffs gesehen und beobachtet haben – ohne einzugreifen. Es folgt ein gesellschaftlicher Aufschrei über Gefühlskälte, Weggucken und dem anonymen Leben in der Großstadt.
Kitty Genovese wird zum Fall für Wissenschaftler. "Man ist auf jeden Fall darauf aufmerksam geworden, dass Menschen vielleicht unter gewissen Umständen einfach nicht helfen", sagt der Siegener Professor für Sozialpsychologie, Andreas Kastenmüller.
Je mehr Zuschauer, desto weniger Reaktion
US-Sozialpsychologen untersuchen die Todesumstände von Kitty Genovese und beschreiben das "Genovese-Syndrom", auch "Bystander-" oder "Zuschauer-Effekt" genannt: je mehr Zuschauer, desto weniger Reaktion. Jeder verlässt sich auf den anderen und tut selbst nichts.
Dieser Effekt ist immer wieder untersucht worden. Auch weil die ersten Studien heutigen wissenschaftlichen Standards nicht entsprechen. "Wir haben einen zeitlichen Einfluss gesehen, dass heute der Zuschauer-Effekt weniger ist", erzählt Kastenmüller. Menschen wollten eingreifen, gerade in gefährlichen Situationen.
Unkorrektheiten bei der Beschreibung
Aber warum hat niemand Kitty Genovese geholfen? Wahrscheinlich hat es durchaus Hilfe gegeben. Es gibt erhebliche Zweifel an der "Keiner-hat-geholfen-Darstellung" der New York Times. Die Zeitung hat später "Unkorrektheiten" im Bericht eingeräumt. So ist die Anzahl der Augenzeugen nicht überprüfbar. Auch sollen sie weniger gesehen als zunächst beschrieben.
Der Mörder von Kitty Genovese wird wenige Wochen nach der Tat gefasst und verbringt den Rest seines Lebens hinter Gittern. Und der brutale Mord gibt den Anstoß für die einheitliche US-Notrufnummer 911, mit der man heute überall Polizei, Feuerwehr und den Rettungswagen erreicht.
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"ZeitZeichen" auf WDR 5 (9.45 Uhr) und WDR 3 (17.45 Uhr) erinnert am 13. März 2019 ebenfalls an Kitty Genovese. Auch das "ZeitZeichen" gibt es als Podcast.
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