Ihre Songs sind der Soundtrack zur Revolte der frühen 1970er Jahre: "Ton Steine Scherben" sind so etwas wie die Hausband von Anarchos, Spontis und undogmatischen Linken in West-Berlin. Der 20-jährige Ralph Möbius gründet die Gruppe im August 1970 mit drei Freunden und singt - ein Novum - zu US-Rockmusik deutsche Texte.
Ihr "Agitrock", wie sie ihre Musik nennen, besteht aus Protestsongs wie "Macht kaputt, was euch kaputt macht". Sänger Möbius schreit die Wut heraus, die viele seit dem Tod von Benno Ohnesorg, dem Attentat auf Rudi Dutschke und den Notstandsgesetzen empfinden.
Ersatz für Schauspieler
Ihren ersten Auftritt haben die "Scherben" am 6. September 1970 beim Love-and-Peace-Festival auf Fehmarn. Eigentlich sollen dort die "Roten Steine" auftreten - eine Theatergruppe von Lehrlingen, die Möbius zusammen mit seinen beiden Brüdern in Berlin gegründet hat.
Doch die Darsteller haben keine Lust. "Natürlich, was sollten die auf einer Bühne mit 20.000 Zuschauern ihr Stück spielen", sagt Ralph Möbius, der sich später Rio Reiser nennt. "Die haben gesagt: Dann tretet ihr mal auf."
Rocker als Ordner
Als die Band ihr erstes Lied spielt, sind an diesem Sonntagabend nur noch 5.000 Zuschauer vor Ort. Die Mehrheit hat die Ostsee-Insel wegen Dauerregens bereits verlassen. Auch die erhoffte Atmosphäre eines deutschen Woodstocks will nicht aufkommen. Rocker, die als Ordner engagiert sind, schikanieren die Hippies.
Viele Bands treten gar nicht auf oder nicht wie geplant - auch wegen der katastrophalen Organisation. Statt am Samstag spielt Top-Act Jimi Hendrix am Sonntag. Es ist sein letzter Auftritt. Zwölf Tage später stirbt er in London.
Während Hendrix spielt, wird das Wetter immer besser. "Nur die Gruppen, die dann noch spielen sollen, die kamen nicht, weil sie erfahren haben, dass gar kein Geld mehr da ist", erinnert sich Rio Reisers Bruder Gert Möbius. "Dann haben wir den günstigsten Moment noch gewählt und haben gesagt: Nö, wir spielen jetzt."
Tageskasse verschwunden
Als Rio Reiser auf der Bühne empfiehlt: "Haut die Veranstalter ungespitzt in den Boden", sind die längst mit der Tageskasse verschwunden. Vor der Tür des Organisationszentrums verlangen die aufgebrachten Ordner den Lohn für ihre Arbeit.
Nach drei Songs ist der Auftritt der "Scherben" vorbei. Aber ihr "Macht-kaputt"-Slogan schlägt ein. Mit ihm beginnt die Karriere der Rockgruppe.
Nach Fehmarn sind die "Scherben" zur Stelle, wenn Linke Häuser besetzen oder Demonstranten gegen den Staat auf die Straße gehen. Nach vier Jahren zieht sich die Band auf einen Bauernhof in Nordfriesland zurück. Als sie sich 1985 auflöst, startet Rio Reiser eine Solokarriere.
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