Zehn Jahre nach Ende der Nazidiktatur suchen die Österreicher nach einer neuen nationalen Identität. Als 1955 die letzten Alliierten die in vier Besatzungszonen aufgeteilte Alpenrepublik verlassen, eint sie höchstens noch der Stolz einstiger monarchischer Größe. Das Land der Skifahrer sehnt sich nach zukunftsträchtigen Symbolen, nach jungen modernen Idolen. Ein smarter Naturbursche aus Kitzbühel wird Österreich jenes Gefühl von "Wir sind wieder wer" bescheren, das schon die Deutschen 1954 nach dem Fußball-"Wunder von Bern" als Nation beflügelt hat.
Gleich bei seinem ersten Start im internationalen Skisport steigt Toni Sailer zum Publikumshelden und Medienstar weit über Österreichs Grenzen auf. Als erster alpiner Rennläufer überhaupt siegt der 20-jährige Tiroler Spenglergeselle bei den Olympischen Spielen 1956 im Abfahrtslauf, Spezialslalom und im Riesenslalom. Die Rennen in Cortina d’Ampezzo werden zugleich als Weltmeisterschaft gewertet und so gewinnt der Nobody Sailer auch die WM-Titel und die Kombination.
Nur "Ski Heil!"
Mit weißer Zipfelmütze und flatternder, schwarzer Keilhose fährt der am 17. November 1935 geborene Sailer die Konkurrenz in Grund und Boden. Die Abfahrt gewinnt er mit 3,5, den Slalom mit 4,0 Sekunden Vorsprung. Im Riesenslalom ist das Naturtalent zum grenzenlosen Erstaunen der Experten gar 6,2 Sekunden schneller als der Zweite. Das Fernsehen, das aus Cortina erstmals live Olympische Spiele überträgt, macht den blendend aussehenden, fröhlichen Skistar über Nacht zum Nationalhelden. "Ist es nicht ein gutes Zeichen, dass wir sportliche Helden zum Gegenstand unserer Verehrung und Begeisterung machen?" jubelt der TV-Reporter. "Nicht einen Feldherrn, nicht den Mächtigen? Nur Ski Heil!"
Der dreifache Sensationserfolg stachelt Sailers Ehrgeiz an, nun will er es allen beweisen. Soll keiner sagen können, der Sailer habe einfach nur Glück gehabt. Für die damalige Zeit noch völlig unüblich trainiert der Olympiasieger auch im Sommer und bleibt in der folgenden Saison nahezu unbezwingbar. Gleichzeitig beginnt Sailer, der Sunnyboy mit dem umwerfenden Lachen, den sportlichen Ruhm mit Rollen in Filmkomödien und auf Schallplatten erfolgreich zu vermarkten. Seine Rennkarriere leidet darunter nicht. Bei der Heim-WM in Bad Gastein 1958 landet Toni Sailer im Slalom zum Entsetzen seiner Landsleute zunächst zwar nur auf Rang zwei. Doch dann siegt er überlegen in Abfahrt und Riesenslalom und gewinnt zusammen mit der Kombination seinen insgesamt siebten Weltmeister-Titel.
"Schwarzer Blitz" auf der Kinoleinwand
Bereits vor der WM hatten internationale Verbandsfunktionäre Sailers Status als Amateur wegen dessen Show-Aktivitäten in Zweifel gezogen. Der erste Popstar im Schnee zieht daraus die Konsequenzen. Mit nicht einmal 23 Jahren erklärt Toni Sailer seinen Rücktritt vom Rennsport, eröffnet in Kitzbühel eine Pension und konzentriert sich auf seine gewinnbringende Show-Karriere. Nach seinem zweiten Film-Hit "Der schwarze Blitz" nimmt er Schauspielunterricht und steht, meist als charmanter Skilehrer, in über 20 Film- und TV-Produktionen vor der Kamera. 1976 heiratet Sailer die Rheinländerin Gaby Rummeny, der er bis zu ihrem Tod im November 2000 die Treue hält.
Nicht zuletzt dank Toni Sailer kann Österreich lange seine Spitzenstellung im Alpinrennsport behaupten. Als technischer Direktor führt er seine Mannschaft in den 70er Jahren zu vier Siegen im Nationencup; er übernimmt leitende Funktionen im Internationalen Skiverband, produziert Skier und führt zwei Jahrzehnte lang ein Sommer-Skicamp in Kanada. Was auch immer Sailer anpackt, der Erfolg bleibt ihm treu. 1999 wird der Ehrenbürger von Kitzbühel gemeinsam mit der Rennläuferin Annemarie Moser-Pröll als Österreichs Sportler des Jahrhunderts ausgezeichnet. Nur den Kampf gegen den Krebs kann Toni Sailer nicht gewinnen. Im Alter von 73 Jahren stirbt er am 24. August 2009 in Innsbruck.
Stand: 17.11.2015
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