Einen Moment lang verharrt Südkoreas Präsident in der offenen Flugzeugtür. Kurz streift der Blick über die Landebahn von Pjöngjang. Dann entdeckt er seinen Gastgeber. Nordkoreas "Geliebter Führer" Kim Jong Il wartet mit breitem Lächeln direkt unten an der Rolltreppe. "Ich sah Sie im Fernsehen abfliegen, da bin ich schnell zum Flughafen gekommen." Auf alles musste Kim Dae Jung vor der Reise zum Erzfeind gefasst sein. 55 Jahre totale Eiszeit trennen die beiden Koreas. Und dann empfängt ihn dieser angeblich menschenscheue, stotternde Alkoholiker wie einen alten Freund mit Smalltalk. Der historische Staatsbesuch – ein einziger Protokollbruch. Offiziell befinden sich beide Länder immer noch im Kriegszustand.Für die Menschen Südkoreas, die das Gipfeltreffen am 13. Juni 2000 live vor Fernsehern und Großbildwänden verfolgen, geschieht bislang Unvorstellbares. Nordkoreas Diktator, ganz Staatsmann, behandelt seinen 75-jährigen Gast mit großem Respekt. Die Fahrt zum Staatsgästehaus legen beide Kims gemeinsam in einer Limousine zurück. 22 Kilometer dicht gesäumt von jubelnden Menschen. "Da müssen alle 3,5 Millionen Einwohner Pjöngjangs stehen", kommentiert fassungslos ein südkoreanischer Fernsehreporter. Liegen keine aktuellen Bilder vor, zeigt das Fernsehen ermutigende Szenen aus Deutschland: Willy Brandt 1970 in Erfurt, der Fall der Mauer, eine glückliche Nation. An diesem Dienstag beginnt das seit dem Zweiten Weltkrieg geteilte Land, an die ersehnte Wiedervereinigung zu glauben.
Das politische Tauwetter am 38. Breitengrad endet so abrupt und unvorhersehbar, wie es begann. Schon nach wenigen Monaten torpediert Nordkorea die vereinbarten Besuchsregelungen und geht wieder auf Konfrontation. Südkoreas Präsident muss eingestehen, sich die Einladung bei dem bizarren Nachbarn mit einigen hundert Millionen Dollar erkauft zu haben. Seit US-Präsident George W. Bush Nordkorea zur Achse des Bösen zählt und ins Visier genommen hat, gibt Kim Jong Il wieder ganz den Retter des Vaterlandes vor den Imperialisten. Ob er inzwischen, wie großspurig verkündet, tatsächlich über Atomwaffen verfügt, weiß außerhalb Nordkoreas niemand. Sicher hingegen ist, dass die 22 Millionen Untertanen des luxusverliebten Steinzeit-Kommunisten weiter hungern müssen und Hunderttausende in politischen Arbeitslagern vegetieren.
Stand: 13.06.05