Stichtag

04. August 2006 - Vor 75 Jahren: Kurt Tucholskys Satz erscheint in der "Weltbühne"

Am 4. August 1931 erscheint in der Berliner "Weltbühne" ein Aufsatz, der die Weimarer Republik entzweit. Geschrieben hat ihn Kurt Tucholsky, der unter Pseudonym seinen Dienst bei der Feldpolizei im 1. Weltkrieg beschreibt. Die Feldpolizei habe den Rückzug abgeriegelt, steht dort zu lesen, damit an der Front auch "richtig gestorben wurde". Und weiter: "Da gab es vier Jahre lang ganze Quadratmeilen Landes, auf denen war der Mord obligatorisch, während er eine halbe Stunde entfernt davon ebenso streng verboten war. Sagte ich: Mord? Natürlich Mord. Soldaten sind Mörder."Die Reichswehr will sich diese Beleidigung nicht gefallen lassen. Aber sie kann Tucholsky nicht direkt verklagen: Enttäuscht von der "flauen Republik" ist der inzwischen 41-jährige Schriftsteller bereits vor Jahren ins Ausland gegangen. Also wird der verantwortliche Redakteur der Weltbühne, Carl von Ossietzky, vor Gericht gestellt. Dessen Verteidiger legen der Anklage eine Fülle von Zitaten aus der deutschen Kulturgeschichte vor, in denen Soldaten als Mörder, Henker und Schlächter bezeichnet werden: von Goethe und Kant über Gerhard Hauptmann bis hin zum amtierenden Reichspräsidenten Generalfeldmarschall von Hindenburg. Nicht den Stand des Soldaten habe man verunglimpfen wollen, bekräftigt von Ossietzky: "Wir verteidigen das Recht auf Leben. Was nützt den Toten des Weltkriegs die Ehre, die angeblich hier geschützt werden soll?"

Das Gericht gibt von Ossietzky Recht. Obwohl die Staatsanwaltschaft sechs Monate Gefängnis fordert, wird der Publizist freigesprochen. Unter Friedensaktivisten macht Tucholskys Satz weiter Karriere. Aber auch der spätere Bundespräsident Gustav Heinemann benutzt ihn 1958 in einer Bundestagsrede. Und er beschäftigt in allerlei Varianten weiterhin die Gerichte. So verklagt Bundesverteidigungsminister Franz-Josef Strauß den prominenten Pastor Martin Niemöller 1959 für die Bemerkung, dass die Ausbildung der Soldaten "die Hohe Schule für Berufsverbrecher" sei. Die Richter entscheiden auf Freispruch - ebenso wie 1981 bei der Feststellung, dass "jeder Soldat ein berufsmäßig trainierter Mörder" ist. 1995 entscheidet das Bundesverfassungsgericht, dass jedermann unbehelligt Soldaten als Mörder bezeichnen darf - sofern er seine Aussage abstrakt genug hält und nicht konkrete Personenen oder Institutionen wie die Bundeswehr verunglimpft.

Stand: 04.08.06