Nach dem deutsch-französischen Krieg von 1870/71 herrscht Aufbruchstimmung in Deutschland: Der Sieg über Frankreich, die französischen Reparationszahlungen und die Reichsgründung unter Führung von Kanzler Otto von Bismarck setzen eine unternehmerische Gründungswelle in Bewegung. Die Firmen Schering, Continental, Hoesch entstehen alle 1871 zu Beginn der so genannten Gründerzeit. Auch August Thyssen macht sich - mit finanzieller Hilfe seines Vaters Friedrich - in diesem Jahr selbstständig. Er kauft in Styrum in der Nähe von Mülheim an der Ruhr ein zwei Hektar großes Grundstück und gründet am 1. April seine erste eigene Firma: die "Thyssen & Compagnie", die Keimzelle des heutigen Industriekonzerns Thyssen-Krupp. In wenigen Monaten entsteht eine 100 Meter lange und 37 Meter breite Halle, in die mehrere Schmelzöfen gestellt werden. Am 2. Oktober 1871 nimmt das Bandeisen-Walzwerk mit einer Belegschaft von 95 Beschäftigten seinen Betrieb auf.
Die Arbeitsbedingungen sind hart: Bei Hitze, Lärm und Staub wird von sechs Uhr morgens bis sieben Uhr abends gearbeitet. Die Pausen legt der am 17. Mai 1842 in Eschweiler bei Aachen geborene August Thyssen in einer Arbeitsordnung fest: von acht bis viertel nach acht, von zwölf bis eins mittags und am Nachmittag von vier bis viertel nach vier. Die Anwesenheit der Arbeiter wird durch Nummernmarken kontrolliert. Wer blau macht oder Streit anfängt, bekommt Lohnabzug. Die Kündigungsfrist beträgt zwei Wochen. Der katholische Firmenpatriarch gilt als konservativ und autoritär: "Man wird mich ja wohl oder übel zur Klasse der Kapitalisten rechnen", schreibt er später. Sein Lebensmotto lautet: "Der Starke ist am mächtigsten allein".
Der wirtschaftliche Boom in Deutschland ist kurz. Ein Börsenkrach löst 1873 die so genannte Gründerkrise aus. In der Eisenindustrie stürzen die Preise in kurzer Zeit um 60 Prozent. Viele Betriebe gehen pleite. Doch August Thyssen hat Glück. Mit Hedwig Pelzer hat er die reiche Tochter eines Mülheimer Lederfabrikanten geheiratet. Mit ihrer Mitgift kann Thyssen weiter expandieren. Er baut einen Stahlkonzern auf, der alle Produktionsstufen umfasst, von der Kohlenzeche über den Hochofen bis zum Walzwerk. Im Ersten Weltkrieg errichtet er eine eigene Geschossfabrik und produziert neben Munition auch Waffen. Als Unternehmer ist August Thyssen erfolgreich, als Familienvater aber versagt er. Seine Ehe geht nach 13 Jahren in Brüche. Die vier Kinder wollen vom Vater Zuneigung, bekommen aber nur Geld, sagt Familien-Biograph Stephan Wegener, ein Nachfahre der Thyssen-Dynastie. Als August Thyssen am 4. April 1926 stirbt, ist seine Belegschaft auf 50.000 Beschäftigte angewachsen. Sein persönliches Fazit: "Was ich geschafft und erarbeitet habe, bleibt schließlich doch nur der Allgemeinheit, denn ins andere Leben hinübernehmen kann ich nichts davon."
Stand: 02.10.06