Das Musical "Nord-Ost" ist ein Erfolg: Die Aufführungen im Kulturhaus einer Moskauer Kugellagerfabrik sind fast jeden Abend ausverkauft, seit Monaten schon. Gespielt wird eine schnulzige Liebesgeschichte mit einem siegreicher Held und einer großen Volks-Familie: Ukrainer, Kasachen, Tschetschenen und Russen in vaterländischer Harmonie. Am 23. Oktober 2002, einem Mittwoch, ist Schluss mit der Illusion: 41 tschetschenische Rebellen stürmen das Theater und nehmen fast 1.000 Menschen als Geiseln.
Kopf der Terroristen ist Mowsar Barajew, ein tschetschenischer Feldkommandant. Am späten Abend lässt er 150 Geiseln frei und stellt seine Forderung: Binnen einer Woche soll Moskau die russischen Truppen aus Tschetschenien abziehen. Der russische Präsident Wladimir Putin lehnt jedes Zugeständnis ab: "Russland wird niemals eine Abmachung mit Terroristen eingehen und sich keiner Erpressung fügen." Auch die Tschetschenen selbst scheinen nicht mit einer Verhandlungslösung zu rechnen. Über eine Internetseite hat Barajew verbreiten lassen: "Ich und meine Leute sind nicht nach Moskau gekommen, um lebend in die Heimat zurück zu kehren, sondern um in Moskau zu sterben."
Die Bedingungen für die Geiseln werden immer unerträglicher. Sie dürfen weder essen noch schlafen. Der Orchestergraben dient als Toilette. Nach rund 40 Stunden versucht die Journalistin Anna Politkowskaja, die seit elf Jahren Tschetschenien bereist, auf eigene Faust zu vermitteln: Sie läuft an den Militärposten vorbei und spricht eineinhalb Stunden mit den Geiselnehmern. Es habe ein "echte Chance" für eine Lösung gegeben, sagt sie später. Doch dann kommt der Zugriff. Drei Tage lang haben Angehörige der russischen Spezialeinheit "Alpha" in einem baugleichen Moskauer Kulturhaus trainiert. Am frühen Samstagmorgen lassen sie Gas durch die Belüftungsschächte einströmen und stürmen das Theater. Alle Terroristen werden getötet, teilweise mit Schüssen ins Genick oder in die Schläfe. Aber nicht nur die Geiselnehmer sterben. Das eingesetzte Gas tötet auch Geiseln. Es ist ein Kampfgas, das den Gegner in kürzester Zeit handlungsunfähig machen soll. Offensichtlich wirkt es tödlich, wenn Geschwächte es einatmen oder die Dosierung zu stark ist.Es dauert Monate, bis Moskau die offizielle Zahl von 129 getöteten Geiseln bekannt gibt. Überlebende leiden noch Jahre später an Seh- und Sprechstörungen, an Lähmungen oder Taubheit. Eine Entschädigung haben die Opfer bisher nicht erhalten. Die Opposition fordert nach dem Gaseinsatz einen Untersuchungsausschuss; der aber wird von der kreml-nahen Mehrheit in der Duma verhindert. Putin zieht andere Konsequenzen: Er schränkt die Pressefreiheit ein. Anna Politkowskaja, die diese Maßnahme kritisiert, wird 2006 erschossen - unter ungeklärten Umständen.
Stand: 23.10.07