Sechs Stunden vor seinem brutalen Ende gibt Pier Paolo Pasolini sein letztes Interview. Darin bekennt Italiens umstrittenster Intellektueller: "Für das Leben, das ich führe, bezahle ich einen Preis." Immer wieder hat Pasolini darauf bestanden, den Tod als "höchsten Ausdruck" eines Menschen und seines Werks zu sehen; immer wieder hat der bekennende Schwule die Art und den Ort seines Todes in Schriften und Filmen zum Thema gemacht. Am Morgen des 2. November 1975 findet man den zerschmetterten, dreimal von seinem eigenen Auto überrollten Körper Pasolinis auf dem Fußballplatz am Rande einer Barackensiedlung von Ostia. Ein 17-jähriger Stricher, den der Regisseur in der Nacht zuvor kennengelernt hatte, wird kurz darauf als Mörder verhaftet und abgeurteilt.
Pasolini ist ein Seismograf der italienischen Gesellschaft; zugleich ein Dissident, verhasst von der Rechten, abgelehnt von der Linken. Seine Kritik an der Konsumgesellschaft, den Medien, dem öffentlichen Leben, fällt gnadenlos aus. "In wenigen Jahren sind die Italiener zu einem heruntergekommenen, lachhaften, monströsen, kriminellen Volk geworden." Lediglich eine Minderheit verehrt den bekennenden Kommunisten, der von der Kommunisten Partei als Abweichler ausgeschlossen und von der katholischen Kirche als Satan persönlich verteufelt wird. In Deutschland ist Pasolini, der am 5. März 1922 in Bologna geboren wurde, weniger als Schriftsteller denn als Schöpfer von Filmen wie "Accatone" (1961), "Mamma Roma" (1962), "Edipo Re" (1967) oder "Teorema" (1968) bekannt. Wegen seines letzten Werks, der verstörenden De-Sade -Verfilmung "Die 120 Tage von Sodom", erhält Pasolini Morddrohungen von Neofaschisten aus ganz Europa. In einigen Ländern ist der lange Zeit indizierte Film bis zum heutigen Tag verboten.
Nach seinem Tod erteilt das offizielle Italien dem Ketzer die Absolution. Die Nation feiert Pasolini als neuen Heiligen; Ideologen aller Richtungen bemühen sich, den Schriftsteller und Regisseur als einen der ihren zu vereinnahmen. Selbst Roms Bürgermeister Veltroni spricht noch heute von einem "nicht zu besänftigenden Schmerz", den die Ermordung Pasolinis verursacht habe. Einer Umfrage zufolge nennen 75 Prozent der Italiener ihn "einen wichtigen Bezugspunkt" des 20. Jahrhunderts. Dementsprechend groß fällt das Medienecho aus, als vor zwei Jahren der als Mörder verurteilte, inzwischen 47-jährige Pino Pelosi, vor laufenden Kameras sein damaliges Geständnis widerruft. Vier andere Täter aus dem rechtsradikalen Milieu hätten mit dem verhassten Pasolini abgerechnet. Er selbst habe aus Angst um seine Familie geschwiegen. Sicher ist, dass der Gerichtsmediziner damals die Anwesenheit weiterer Angreifer zweifelsfrei festgestellt hat. Die Ermittlungen im Mordfall Pasolini werden daraufhin wieder aufgenommen - Ende offen.
Stand: 05.03.07