Stichtag

23. Februar 2007 - Vor 35 Jahren: Erste Lesung der Ostverträge im Bundestag

"Wir müssen zu einem Miteinander statt einem Nebeneinander kommen", sagt Bundeskanzler Willy Brandt (SPD) in seiner Regierungserklärung von 1969. Er will die starre Blockkonfrontation zwischen Ost und West aufweichen. "Wandel durch Annäherung" umschreiben Brandt und sein Staatssekretär Egon Bahr (SPD) die Entspannungspolitik. Erste Ergebnisse sind der Moskauer und der Warschauer Vertrag, die 1970 unterzeichnet werden. Darin wird die Unverletzlichkeit der - als Folge des Zweiten Weltkrieges entstandenen - Grenzen mit den östlichen Nachbarn festgeschrieben. Die Reaktionen auf die neue Ostpolitik sind geteilt: Brandts Kniefall am Ehrenmal des Warschauer Ghettos im Dezember 1970 wird im Ausland mit Achtung und Respekt aufgenommen. In der Bundesrepublik hingegen kritisieren Springer-Presse und CDU-Opposition die symbolische Handlung als unverständliche Demutsgeste vor dem Warschauer Pakt.

Besonders heftig schlägt Brandt die Kritik zwei Jahre später im Bundestag entgegen. Am 23. Februar 1972 beginnt die erste Lesung der Ostverträge. 22 Stunden sind für die Redeschlacht vorgesehen - verteilt auf drei Tage. In der Debatte muss sich die sozialliberale Koalition vorwerfen lassen, die Einheit Deutschlands für eine vage Hoffnung auf Entspannung zu opfern und Westdeutschland zu einem "Vorposten des Kommunismus" zu machen. Auch Brandts beabsichtigte Annäherung an die DDR wird abgelehnt: "Gewaltverzicht auf dem Papier und bleibender Schießbefehl in der Wirklichkeit, das ist einer der Widersprüche und eine der Realitäten, die wir nicht mitmachen wollen und können", sagt der CDU/CSU-Fraktonsvorsitzende Rainer Barzel. "Wer Angst vor der eigenen Courage hat", kontert Außenminister Walter Scheel (FDP), "der erhebt doch indirekt die Forderung, die Regierung der DDR müsse erst kapitulieren, bevor es zu Kontakten mit der Bundesrepublik kommen darf."

Kaum angesprochen, doch präsent ist auch ein anderes Reizthema: Mit der Anerkennung von Europa in den damaligen Grenzen gibt die BRD die ehemaligen deutschen Ostgebiete auf. "Es ging nicht anders", sagt Bahr als Architekt der Ostverträge rückblickend. "Wir konnten nicht nachträglich den Krieg gewinnen." Damit signalisiert die Regierung Brandt: Nicht die Niederlage von 1945 ist für die Teilung verantwortlich, sondern die Tatsache, dass Deutschland zuvor die Welt mit Krieg überzogen hat. Der Streit um die Verträge mit der UdSSR und Polen wird im Bundestag erst Monate später entschieden: Sie werden am 17. Mai 1972 von einer knappen Mehrheit der sozialliberalen Regierungskoalition gebilligt. Die Unionsabgeordneten enthalten sich fast ausnahmslos der Stimme. Am 3. Juni 1972 treten die Ostverträge in Kraft.

Stand: 23.02.07