Das Leichenschauhaus von Santiago ist so voll, dass sich die Toten in sämtlichen Räumen des Gebäudes stapeln. Verwesungsgestank liegt über den endlosen Reihen nackter, blutiger Leiber. Seit Beginn des Militärputsches in Chile am 11. September 1973 werden ständig weitere zerschundene Körper eingeliefert. Unter den im ersten Stock abgelegten Toten findet Joan Turner Jara die halbnackte Leiche ihres Mannes. Zwei Tage zuvor, am 16. September, hat man den berühmten Sänger in einem Straßengraben von Santiago entdeckt. Sein Körper ist durchsiebt von 44 Maschinengewehr-Geschossen, seine Hände baumeln nur noch lose an den Handgelenken. Victor Jara hat zu den Ersten gehört, die nach Beginn des Staatsstreichs unter Führung von General Augusto Pinochet und dem Tod von Präsident Salvador Allende verhaftet worden sind. Er ist gefährlich für die Generäle, denn Victor Jara ist die Stimme des politischen Kampfes für ein demokratisches Chile.
Kein chilenischer Künstler genießt bei den einfachen Menschen eine derartige Popularität wie der 40 Jahre alte Volkssänger. Er singt von Armut und Unterdrückung, aber auch von der Liebe und der Schönheit des Lebens. Der 1932 geborene Sohn eines trunksüchtigen, prügelnden Landarbeiters kennt die Verhältnisse genau, von denen er singt. Aufgewachsen in den Elendsquartieren um Santiago erlebt der junge Victor, wie sich seine geliebte Mutter für die Familie zu Tode schuftet. 1950 bricht er seine Ausbildung zum Buchhalter ab, besucht zwei Jahre ein Priesterseminar und landet nach der Militärzeit in der Theaterschule der Universität. Schon damals tritt Victor Jara häufig als Sänger mit chilenischer Volksmusik auf und schreibt eigene Songs. Seine ersten großen Erfolge aber feiert er in den 60er Jahren als Theaterregisseur. Doch der inzwischen mit der englischen Tänzerin Joan Turner verheiratete Star will mehr. "Er war nie damit zufrieden, weil er immer nur dieselben Menschen erreichte, die paar Hundert, die in Santiago ins Theater gingen", erinnert sich später seine Witwe.
Victor Jaras Lieder werden immer kritischer. Wie viele Künstler Lateinamerikas unterstützt er die Unidad Popular, das Bündnis der Linken unter Führung des Arztes Salvador Allende. Als der Sozialist 1970 zum Präsidenten gewählt wird, stellt sich Jara ganz in den Dienst der Unidad Popular. "Zwischen 1970 und 1973 arbeitete Victor 20 Stunden am Tag", erzählt Joan Jara. Ihr Mann singt in Bergwerken und Fabriken, vor Studenten und den Kindern in den Barackensiedlungen. Doch der Traum vom demokratischen Sozialismus hat gegen die vom US-Geheimdienst CIA lancierten Sabotageaktionen und Terroranschläge keine Chance. Am Tag des Putsches der Militärjunta soll Victor Jara in der Universität auftreten. Soldaten nehmen den Sänger dort fest und verschleppen ihn zusammen mit den Studenten in das zum Gefangenenlager umfunktionierte Chile-Stadion. Dort wüten die Schergen der Junta mit gnadenloser Grausamkeit unter den Häftlingen. Vier oder fünf Tage wird Victor Jara dort gefoltert, bevor ihn die Soldaten erschießen und seine Leiche in einer Straße von Santiago aus dem Auto werfen. 30 Jahre nach seiner Ermordung ist Victor Jara immer noch unvergessen. 2003 wird das Stadion von Santiago nach ihm benannt. Ein Jahr später kommt endlich der Prozess gegen Jaras Mörder in Gang.
Stand: 16.09.08