Im November 1989 spaltet ein Titelblatt am Kiosk die Nation. Darauf ist eine junge Dame mit Minipli-Frisur und Jeansjacke zu sehen, die eine geschälte Gurke in den Händen hält. Von der Wange kullert eine Freudenträne. "Zonen-Gaby (17) im Glück (BRD)" steht daneben zu lesen: "Meine erste Banane". Es ist die wohl bitterböseste Satire auf den teils naiven Freudentaumel zur Wiedervereinigung - gespickt mit Vorurteilen, die Wessis von den Ossis haben.
Zu sehen ist das Cover auf der Zeitschrift "Titanic", die sich im Untertitel trotz des auflagenstärkeren "Eulenspiegel" aus dem Osten selbstbewusst "das endgültige Satiremagazin" nennt. Gegründet wird sie von den Humoristen der "Neuen Frankfurter Schule" wie Robert Gernhardt, F.K. Waechter, Peter Knorr oder Chlodwig Poth: Sie verlassen 1979 die Redaktion des Vorläufers "pardon", um ihre Vorstellungen von guter Satire in einer demokratischen Redaktionsumgebung verwirklichen zu können. Bis heute hat eine Gruppe ehemaliger Chefredakteure und Mitarbeiter eine Sperrminorität im Verlag, die den Blattmachern völlige inhaltliche Freiheit garantiert. Bisweilen steigt sogar der Praktikant wie im Fall des aktuellen Chefredakteurs Leo Fischer direkt zum Blattchef auf. Inhaltlich reicht das Spektrum von humoristischer Hochprosa in den Kolumnen Max Goldts über witzige Kritik am politischen und gesellschaftlichen Alltagsleben wie in den "Briefen an die Leser" bis hin zu blasphemischen Parodien - etwa jener, die den gekreuzigten Christus mit dem damals populären Werbeslogan "Ich war eine Dose" zusammenbringt.Während "pardon" bald untergeht, erhebt sich "Titanic" mit spektakulärsten Aktionen aus den Fluten der Magazine. Hierzu gehört unter anderem eine gefälschte Wette in Thomas Gottschalks populärer Samstagabend-Show "Wetten dass..?", in der der Chefredakteur Bernd Fritz 1988 behauptet, Buntstifte am Geschmack erkennen zu können, tatsächlich aber unter der Verdunklungsbrille durchlugt ("hm, schmeckt edel - ist Goldocker"). Die Auflösung vor laufender Kamera und 20 Millionen Zuschauern beschert dem Blatt einen Bekanntheitsgrad, der den Durchbruch bedeutet.Im Juli 2000 schickt Chefredakteur Martin Sonneborn ein Bestechungsfax an FIFA-Delegierte, das "richtig gute Würstchen" und Kuckucksuhren für den Fall verspricht, dass die Fußball-WM nach Deutschland kommt. Später wird der Neuseeländer Charles Dempsey zugeben, sich aufgrund des Faxes trotz Weisung des Verbands der Stimme enthalten zu haben. Deutschland bekommt den Zuschlag vor Südafrika. Ohne die "Titanic" hätte das Sommermärchen also vielleicht gar nicht stattgefunden.
Immer wieder eckt Titanic mit seinen Aktionen an. Nach einem empörten "Bild"-Artikel samt Aufruf zum Protest ("Böses Spiel gegen Franz") muss sich die Redaktion stundenlang von "Bild"-Lesern beschimpfen lassen. Während sich Außenminister Hans-Dietrich-Genscher (FDP) über sein Alter Ego "Genschman" noch amüsiert und Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) den angedichteten Spitznamen "Birne" beharrlich aussitzt, zieht der schleswig-holsteinische Ministerpräsident Björn Engholm (SPD) wegen einer Titelbildmontage vor Gericht. 190.000 D-Mark muss "Titanic" an Schmerzensgeld und Prozesskosten bezahlen.Trotz dieser existenzbedrohenden Summe geht das Flagschiff deutscher Satire nicht unter. Heute verkauft das Magazin rund 64.000 Exemplare pro Ausgabe.
Stand: 11.10.09