Ein scheinbar ganz normaler Donnerstagmorgen: Wie jeden Tag ist der Madrider Bahnhof Atocha am 11. März 2004 Ziel hunderttausender Pendler, auf dem Weg zur Arbeit, zur Universität, zur Schule. Die Schlagzeilen der spanischen Tageszeitungen an den Kiosken werden beherrscht vom 1:0-Sieg von Real-Madrid über Bayern-München am Vorabend und den Parlamentswahlen am kommenden Sonntag. Doch dann erlebt Spanien den bisher schwersten Terroranschlag seiner Geschichte. Die erste Bombe explodiert am Bahnhof Atocha um 7.37 Uhr im voll besetzten Zug der Linie zwei aus Richtung Alcalá de Henares. Kurz darauf gehen zwei weitere Bomben hoch. Nur einige Minuten später explodieren zeitgleich mehrere Bomben in drei weiteren Zügen derselben Linie. Insgesamt 191 Menschen werden getötet, mehr als 1.800 werden verletzt. Ganz Spanien trauert um die Opfer. In Madrid kommt es spontan zur Trauerkundgebungen, vor allem rund um die Bahnhöfe: "Todos íbamos en ese tren " ("Wir alle sind in diesem Zug gefahren").
Am Mittag wendet sich der damalige Innenminister der konservativen Regierung, Ángel Acebes, an die Öffentlichkeit: "Die Sicherheitskräfte und das Innenministerium zweifeln nicht, dass die Terrororganisation ETA hinter diesem Attentat steckt." Der benutzte Sprengstoff lasse keinen Zweifel daran. Die Anschläge auf die Madrider Vorortzüge werden nur drei Tage vor den Parlamentswahlen verübt. Für die regierende Volkspartei um Ministerpräsident José María Aznar ist das ein denkbar ungünstiger Zeitpunkt. Das Drama wird politisch missbraucht. Die Regierung beschuldigt weiterhin die ETA der Tat - obwohl die baskische Separatistenorganisation bereits kurz nach den Anschlägen jegliche Beteiligung abstreitet und es schon am 11. März erste Hinweise gibt, dass es sich um islamistische Attentäter gehandelt haben könnte. Heute ist klar: Die Regierung verheimlicht in den ersten Tagen nach den Anschlägen Informationen. Sie lässt die Öffentlichkeit absichtlich im Unklaren. Die ausländischen Korrespondenten und spanischen Botschafter werden auf die ETA-Version eingeschworen. Schließlich ist auch der UN-Sicherheitsrat davon überzeugt. Die spanische Regierung tut alles, um die Fakten zu verschleiern. Sie fürchtet, für ihre Beteiligung am Irak-Krieg von den Wählern abgestraft zu werden.
Am 13. März, einen Tag vor der Wahl, stellt sich heraus: Es muss sich um einen Anschlag radikaler Islamisten gehandelt haben. Der islamistische Terror ist zweieinhalb Jahre nach den Anschlägen des 11. Septembers in Westeuropa angekommen. Innenminister Acebes gibt am Abend bekannt, ein Bekennervideo sei aufgetaucht: "Die Erklärung wird im Namen des angeblichen Sprechers Al-Qaidas in Europa [...] abgegeben." Die konservative Volkspartei verliert bei den spanischen Parlamentswahlen am 14. März 2004 die absolute Mehrheit. Nach dem Wahlsieg der Sozialisten wird eine parlamentarische Untersuchungskommission eingesetzt. Sie stellt zweifelsfrei fest, dass die Anschläge tatsächlich von Islamisten begangen wurden. Sieben der mutmaßlichen Attentäter sprengen sich gut drei Wochen später in einem Madrider Vorort in die Luft. 29 Verdächtige werden angeklagt. Fast alle werden zu langen Haftstrafen verurteilt.
Stand: 11.03.09